Dienstag, 6. Januar 2009

Eine schwierige Nachsuche

Bild: Der Autor am 25. September 1953

Früher war es untersagt, Jagdhunde auf die Hochjagd mitzunehmen. Meistens war ja auch das Gelände nicht gerade dazu angetan, den doch recht kleinen Vierbeinern die nötige Voraussetzung zu bieten. Eine lange Nachsuche bei einer angeschossenen Gämse war dann jedenfalls zeitweise massgebend für obrigkeitliches Umdenken.

Eines schönen Tages, besser gesagt am 23. September 1953, war ich wieder einmal den Steinböcken nachgestiegen und kam gerade vom Tannhorn her zu den Alphütten im Salibühl. Schon von weitem sah ich Rauch aus einem kleinen Kamin steigen und wunderte mich, wer hier wohl hausen könnte. Vieh war nämlich keines mehr hier oben. Die Rucksäcke mit den daran angelehnen Gämsstutzen lehrten mich aber blad einmal, dass sich wohl einige Hochwildjäger die Zeit bei einem fröhlichen Umtrunk um die Ohren schlugen. Bei meinem Eintreten, noch geblendet von der Helle draussen, sah ich zuerst ausser bissigem Rauch gar nichts. Die laute Unterhaltung verstummte dann bei meinem üblichen Gruss.

"Lueg da, dr Steiböckler", tönte es aus einer Ecke, und der Stimme nach wusste ich sofort, dass es ein mir bekannter Wirt aus Bern war. Zudem hatte sich hier wohl der halbe Jagdverein Brienz versammelt, dem auch die Jäger aus der Stadt Bern angehörten. Darunter ein hoher Beamter, der in dieser Geschichte eine wesentliche Rolle spielen sollte.

Ungezwungen, wie es in den Bergen halt so üblich ist, hiess man mich setzen und mithalten. Das war mir alles andere als zuwider. Nach einem interessierten Woher und Wohin teilte ich den Umsitzenden mit, noch eine Nacht im Berg bleiben zu wollen. Hier, auf der Rotschalp oder gar unten im Wirtschäftli von Planalp.

Ob es mir etwas ausmache, bei ihm zu bleiben, sprach mich der bereits genannte Beamte an. Alle andern wollten nämlich noch gleichentags die Jagdgründe verlassen. Er selber habe nicht weit weg einen starken Gämsbock gesehen, und weil er diesen noch zugute habe, wolle er noch bleiben, um am frühen Morgen das Glück zu versuchen. Warum nicht, mir war das gleich. Wir waren schon früher zusammen im Berg und deshalb wusste ich auch, dass er einen schwachen Rücken hatte. Das ist bei der Bergung eines Wildes nicht gerade von Vorteil.

Noch vor dem ersten Büchsenlicht waren wir in den Gräben unterhalb auf Ansitz und plangten dem Auftauchen des Gesuchten entgegen. Als die Sonne anfing, die regungslosen Rücken der Lauernden zu wärmen, nahmen unsere an Wild gewöhnten Augen jenseits des Grabens eine Bewegung wahr. Und dann trat er heraus aus den verhedderten Bergföhren und Stauden, die ihm kaum zum Rist reichten, aber doch etwas verdeckten. Der Prachtsbock hatte dermassen stark aufgesetzt (hohe Krickel), dass ich sofort in seinen Bann gezogen wurde. Nicht zuletzt deswegen wünschte ich, er würde ohne mein Dazutun abhauen. Leider ging mich das aber nichts an, und ich durfte mir auch nicht anmassen, die Jagd zu stören.

Die Feststellung, dass er nur einige hundert Meter weiter hinten im eidgenössischen Bannbezirk Augstmatthorn gestanden hätte, konnten ihm und meinen Gefühlen nun nicht mehr viel helfen. Ein starker Aufwind hinderte zudem den Todgeweihten, unsere Witterung aufzunehmen. Er stand ziemlich genau auf gleicher Höhe zu uns und auf guter Schussdistanz. Irgend etwas schien ihn weiter oben zu interessieren. Bewegungslos stand er nun schon seit Minuten dort, ohne auch nur einmal den Kopf zu wenden. Nichtäsende Gämsen sind sonst meistens sehr aufmerksam, und nur selten entgeht ihnen eine Bewegung im Berg. Offenbar hatten wir es bei unserem Burschen mit einem so genannten Grabenbock aus dem nahen Schutzgebiet zu tun, dem noch nie ernsthaft nachgestellt worden war. Möglicherweise war er auch auf einer Brautvorschau, denn nur wenige Wochen später würde ja die Brunft einsetzen.

Ich beobachtete den Jäger ebenso gespannt wie das Wild dort drüben. Fast konnte man sehen, wie des Weidmanns Hirn arbeitete. Soll ich oder soll ich nicht? Die Tatsache, dass der Bock noch nicht in seiner Ganzheit zu sehen war, hinderte den Schützen, voreilig den rechten Zeigefinger zu krümmen. Aber dann hat sich die Frage zu Ungunsten des Bockes entschieden. Der satte, harte Knall liess an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.

Der Getroffene zeichnete sofort, blieb aber zu unserem Schrecken nicht auf der Strecke. Eine absetzende Bewegung weiter hinten bewies es. "Stärnesiech", zischte es gepresst aus des Schützen Lippen und ich konnte ihm eigentlich nur beipflichten. Für mich war es schon seit jeher ein Gräuel, bei waidwund geschossenem Wild dabei zu sein. Aber hier mussten wir uns der Tatsache beugen, den Bock nur verletzt zu haben. Wie schwer, war vorderhand nicht abzusehen. Sofort nachsteigen um uns zu vergewissern, konnten wir auch nicht. Ein ungeschriebenes Gesetz verlangt vom Jäger, das angeschossene Wild während einer halben bis zu einer Stunde in Ruhe zu lassen, damit es ungestört und nicht noch mehr verängstigt seine Seele im Wundbett aushauchen kann.

Mir war nicht gerade wohl zumute und es war auch unübersehbar, wie es meinem Beamten mehr als leid tat. Die Minuten wollten nicht verstreichen. Keiner sprach ein Wort, und im Geiste sah ich schon die fast unbegehbaren Gräben vor mir, eine Nachsuche sehr erschwerend. Die weidmännische Ehre verlangt aber vom Schützen, verletzte Tiere in jeder Situation auszumachen und eine saubere Lösung herbeizuführen, so oder so.

Dann war es aber so weit, bereits war Mittag vorbei. Ich hetzte als Erster los, wollte endlich Gewissheit haben. Beim Anschuss entdeckte ich an den Gräsern etwas Schweiss (Blut), hellrot mit kleinen Bläschen. Also Lungenschuss, das bewies der Lebenssaft des armen Bockes. Und was das heisst, wussten wir beide. Der Verwundete konnte sich noch sehr weit vorwärts bewegen, und es würde uns eine harte Prüfung bevorstehen. Nach einer Stunde waren wir kaum hundert Meter vorangekommen, weil die spärlichen Blutstropfen nur sehr schwer gesehen werden konnten.

Die ersten Gräben kamen, und der Jäger war heilfroh, als ich ihm offerierte, allein weiter zu gehen. Himmel, war das ein Krampf! Es war nun schon Nachmittag, und ich war immer noch auf Rufweite zum Zurückgeblienen. Auf der richtigen Fährte war ich zwar. Die roten Flecken, auf die sich meine ganze Aufmerksamkeit richteten, wiesen mir den Weg. Einmal kam ich zu einer Stelle, wo sich der Angeschossene niedergelassen hatte. Verdrückte Gräser und eine kleinere Blutlache bewiesen es. Offenbar hatte ich ihn gestört, und mit letzter Kraft musste er sich weiter geschleppt haben. Das konnte nicht lange vorher gewesen sein, die Blutspur war noch warm. Ehrlich, mir war fast zum Heulen. Aber was sollte ich auch? Ich musste ihn finden und dann den Weidmann holen, damit ein Fangschuss angebracht werden konnte.

Wieder war eine gute Stunde verstrichen, und ich war immer noch nicht sehr viel weiter. Zudem musste ich höllisch aufpbassen, nicht etwa auszurutschen. Mir wäre es nicht besser als dem Bock ergangen. Manchmal nur an Gräsern haltend, setzte ich Schuh vor Schuh, leise, um den Verwundeten nicht noch mehr zu beunruhigen und weiter zu treiben.

Nur wer die Ebliggräben kennt, kann sich ein Bild meiner Situtation machen. Aber die Sorge gab mir doppelte Kraft, verlieh mir aber keine Flügel. Es schien, die Plagerei würde keine Ende nehmen. Aber aufgeben wollte, durfte ich nicht. Möglich, ein berggewohnter Einheimischer hätte es besser geschafft.

Dann endlich, ich weiss nicht mehr nach wie viel Zeit, sah ich ihn. Etwa zehn Meter unter mir lag er auf dem Rücken, nach einem Sturz von einer Tanne aufgehalten. Mit dem Fernglas konnte ich die gebrochenen Augen wahrnehmen, und ich war froh darüber.

Schnell markierte ich einige Stellen, um den Rückweg nach Abholung des Schützen leichter zu finden. Aber es ging lange, sehr lange, bis wir beide wieder bei unserem Gefallenen waren. Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit wurde mir bewusst, dass es unmöglich sein würde, das Jagdgut noch bei Tageslicht herauszuschaffen. Auch ausgeweidet war der Prachtskerl noch immer um die dreissig Kilo. Und auf die Hilfe des Jägers konnte ich nicht gross hoffen. Hinabsteigen, was eigentlich logisch erscheinen sollte, konnten wir auf keinen Fall. Nicht einmal mit Seilen hätte ich mich darauf eingelassen, aber solche hatten wir sowieso nicht dabei. Also noch einmal auf dem gleichen Weg zurück, diesmal mit der zusätzlichen Last auf meinem Buckel. Es graust mich noch heute, und ich habe wohl die halbe Lunge ausgekotzt.

Schon bald einmal zeigte sich, dass wir es bei guter Sicht nicht mehr schaffen würden, die unwegsame Gegend zu verlassen. Zudem drohte ich schlappzumchen. Wir entschlossen uns deshalb, das Tier möglichst hoch an einen Ast zu hängen, um ohne Last besser vorwärts zu kommen. Das hiess aber dann, eine weitere Nacht in einer Hütte zu übernachten.

Viel gesprochen haben wir dort nicht. Das Erlebte belastete uns, und wir konnten uns fast nich davon lösen. Es dünkte mich, der Wildschütz würde sich vor mir schämen. Er, der sich immer rühmte, bei keiner Gämse zwei Kugeln brauchen zu müssen. Gut, diesmal hat er auch nur eine begraucht, aber nicht so, wie er gerne gewollt hätte.

Den Krampf am andern Morgen kann sich jeder leicht vorstellen. Zudem hatte es über Nacht noch angefangen zu nieseln, und Nebelschwaden sind aufgzogen. Und dann der Kater in den Waden und im Hirn! Wir hatten vor lauter Elend wohl etwas zu tief in die Gläser geschaut.

Aber einmal war es dann so weit. Der gemarkte Bock (Anbringen einer Ohrmarke) war vor der Hütte. Gleich darauf machten wir uns auf zum Abstieg. Diesmal auf einem guten, aber auch steilen Weg hinunter nach Ebligen. Dort gab es bei Fuchs Vreni im "Hirtschen" ein gutes Essen, das mir selbstredend offeriert wurde. Mit der Bemerkung übrigens, ohne mich hätte er es nie und nimmer geschafft. Und das habe ich ihm geglaubt.

Wir sind dann noch gleichentags in Brienz auf die Nachsuche im Gebirge zu sprechen gekommen, und irgend jemand erwähnte auch den Einsatz von Hunden, die zu dieser Zeit nicht mitgenommen werden durften.

Der Beamte mit seinem grossen Einfluss bei den Behörden in Bern hat es dann dem Vernehmen nach auch geschafft, und fürderhin durfte er seinen schönen Langhaardackel Ajax mitnehmen. Ob es ihm etwas genützt hat, weiss ich nicht. Es bleibt vielmehr zu hoffen, er habe nur noch Blattschüsse angebracht, wie es das Wild verdient.









Freitag, 2. Januar 2009

Katze warnt vor Schlange



Bild links: mein Zuhause am Rio Negro im Amazonas-Gebiet.

Bild rechts: "Buschmeister", hochgiftige Schlange.



Es ist anfangs der Neunzigerjahre des vorangegangenen Jahrhunderts. Im Amazonas-Gebiet hat der Frühling begonnen, und die Flora erblüht in einer Pracht, wie sie nur in einem subtropischen Gebiet gefunden werden kann.

Vom Dreiländereck (Argentinien-Brasilien-Paraguay) Iguaçu herkommend, bin ich nach langem Flug in der Urwaldstadt Manaus gelandet. Dort nehme ich vorerst Quartier im prächtigen Hotel "Tropical", das mit seinen unzähligen Springbrunnen - sogar in den Korridors - zu einem der schönsten dieser Art gehört. Sogar ein eigener Zoo mit vielen Tieren aus der Amazonasgegend ist dem Prachtsbau angegliedert.

An einem frühen Morgen schiffe ich mich auf einem Bananenboot ein, und alsbald tuckern wir den Rio Negro hinauf, ungewissen Abenteuern entgegen. Die Zivilisation ist längst hinter uns, als es heisst, in kleinere Boote umzusteigen, damit man auf den engen Nebenarmen und zwischen den riesigen Baumstämmen der überfluteten Regewälder ungehindert vorankommt.

Ich probiere gerade eine kleine Gruppe buntfarbiger Papageien zu filmen, als plötzlich das Wasser hoch aufspritzt und die Mitfahrer richtiggehend duscht. Während die einheimischen Bootsführer schelmisch lächeln, schauen die Touristen erschrocken einem meterlangen Alligator nach, der sich von einem tief hängenden Ast ins Wasser hat plumpsen lassen.

Nach weiteren ähnlichen Vorkommnissen erreichen wir nach langer Reise das "Amazon Village". Dieses besteht aus 14 strohbedeckten kleinen Bungalows und einer Bar mit Küche. Wohlverstanden, das mitten im tropischen Urwald.

Der Oberjehu händigt mir den Schlüssel für das Hüttchen Nr. 9 aus, und erwartungsvoll mache ich mich auf die Suche, vollgepackt mit den üblichen Utensilien. Unterwegs bestaune ich die bunte Vogelwelt und stelle zwischendurch fest, dass in dieser einsamen Gegend offenbar auch Hauskatzen gehalten werden. Mindestens ein halbes Dutzeend hellgrauer Tigerli begegnen mir.

Mein Zuhause finde ich bald einmal, und überwältigt von den neuen Eindrücken setze ich mich erst einmal auf die Holztreppe, die zu einer kleinen Vorlaube führt. Schon flattert es, und gebannt verfolge ich, wie ein prächtiger grüner Papagei mit rotem Häubchen sich auf einem der Stützbalken der Hütte niederlässt. Lauthals fängt er plötzlich an zu krächzen und schlägt heftig mit den Flügeln. Dabei bemerke ich den Störenfried auch, wobei ich ein leises Lächeln nicht unterdrücken kann. Was mir eitel Freude bereitet, scheint den bunten Vogel aber mächtig aufzuregen.

Einer rotgelben Eidechse nachjagend, rast ein junges Tigerli den Weg in meine Richtung hinunter, und stellt dann verblüfft fest, dass das flinke Echslein unauffindbar im dichten Laub verschwunden ist. Aber nun errege ich Büsis Aufmerksamkeit. Den Schwanz bolzengerade aufgestellt, kommt es mir schnurrend entgegen. Ganz offensichtlich ist es an fremde Menschen gewöhnt und erfhofft sich sicher noch etwas Essbares. Mir kommt ein kleines Büchslein Sardinen in den Sinn, und bald einmal kann sich meine neue Freundin daran gütlich tun. Nach dem obligaten Maulschlecken fällt mir auf, wie aufmerksam die kleine Jägerin ist. Offenbar ist sie von ihrer Mutter schon recht gut in das Beutefangen eingeführt worden.

Unverhofft macht sie einen Riesenbuckel und fängt an zu fauchen. Interessiert schaue ich in die gleiche Richtung und werde dabei sicher ein wenig bleich. Unter der Laube entdecke nämlich auch ich eine gut zwei Meter lange Schlange, die dort zusammengerollt liegt und bereits nervös züngelt.

Ein grosser Bogen um das Reptil schlagend, mache ich mich auf zur Bar, um das Gesehene einem Koch zu erzählen. Im Nachhinein bin ich aber reuig, denn der zaudert nicht lange und schlägt der unbeliebten Anwohnerin kurzerhand und geschickt mit einem grossen Buschmesser den Kopf ab. Dabei gibt mir der sprachbegabte Kochkünstler zu verstehen, dieses Biest sei hochgiftig und sei hier eigentlich eher selten.

Seine Aussagen bestätigen sich beim Nachschlagen in einem Erkennungsbuch, das ich bei solchen Exkursionen immer bei mir trage. Auf Deutsch heisst sie "Buschmeiser", und ist wirklich sehr gefährlich. Von der Grösse her hat sie überlange Giftzähne, die bei einem Biss tief in die Muskeln hineinfahren, wo der todbringende Saft nicht mehr abgesaugt werden kann und sich langsam im ganzen Körper verteilt, was in der Regel zum Tod führt.

Am Abend nach einem reichhaltigen Buffet machen sich die anwesenden Gäste untereinander erst so richtig bekannt. Dabei werden zwei junge deutsche Ärztinnen aus Ulm etwas käsig, als ich von dem kürzlichen Zusammentreffen mit der Schlange erzähle. Auch andere spitzen die Ohren und fragen sich möglichrweise, ob sie auch wirklich am richtigen Ort wären. Dessen ungeachtet sitzt man aber bis weit in die Nacht hinein an der Open-air-Bar und plant kommende Taten für den nächsten Tag.

Aber so gegen Mitternacht erhebt sich auch der Letzte und geht mit einer Taschenlampe, die jedem Gast mangels Elektrizität ausgehändigt worden ist, auf die Suche nach seinem Gelieger.

Und wer sitzt da bei meinem Eintreffen schon vor der Tür? Richtig, mein Tigerli. Irgendwie habe ich schon während der Grill-Party gehofft, der Kleinen nochmals zu begegnen. In weiser Voraussicht habe ich etwas vom Bratgut in eine Papierserviette verpackt und mitgenommen. Als ob sie das wisse, stellt sie sich an meinen Hosenbeinen hoch und fängt richtiggehend an zu betteln. Vielleicht sticht ihr auch der verführerische Duft in die Nase.

Die Tür knarrt etwas, als ich in die "gute Stube" eintrete und feststellen muss, dass das flinke Geschöpf zwischen meinen Beinen hindurch den Raum schon vor mir betreten hat.

Zufrieden über den ganzen Tag zünde ich eine Kerze an, verschwinde zwecks Körperpflege in einen anderen Raum und staune über den relativ grossen Konfort.

Bei meiner Rückkehr sitzt die Katze auf meinem Bett und macht keine Anstalten, mein Logis in nächster Zeit verlassen zu wollen. Währenddem ich bei flackerndem Kerzenlicht noch etwas Karten studiere, beobachte ich sie hie und da aus einem Augenwinkel und stelle fest, dass ihr nicht, aber auch gar nichts entgeht, was sich hörbar, oder für mich auch nicht, in oder um die Hütte so alles tut.

Und da tut sich wirklich allerhand. Offenbar aufgeschreckt durch mein Licht, macht sich etwelches Getier - zwar unsichtbar - bemerkbar. Einmal raschelt es im Schilfdach, oder dann huschen eilige Beinchen über die Balken, immer aufmerksam verfolgt von meiner Wächterin.

Also ganz ehrlich, so richtig unbeschwert schläft hier am ersten Abend keiner. Immer wieder schreckt man auf und meint Sachen zu hören, die es gar nicht gibt. Oder dann träumt man von Schlangen und Alligatoren, die einem auch nicht richtig pennen lassen. Dann zündet man halt zwischendurch mal wieder ein Licht an, um zu fahnden, ob auch wirklich alles in Ordnung ist.

Schon in der ersten Nacht fällt mir ein, mich doch  nach dem Verhalten der Katze zu richten. Schläft sie nämlich ruhig und zusammengerollt am Fussende des Bettes, kann man wieder die Nacht über einen fallen lassen und ruhig weiterschlafen. Sitzt sie aber aufrecht da und lauscht und blickt in eine Ecke, könnte es sich lohnen, mit einem Stecken bewaffnet nachzuschauen.

Auf meinen Rat hin halten am nächsten Tag auch andere Ausschau nach einem Büsi und machen dieses gemäss meinem Rezept zu ihrem Nachtwächter.

Der indianische Beizen-Häuptling lacht und meint anerkennend, wir seien nicht die Dümmsten!



 










Dienstag, 16. Dezember 2008

Mit Blindheit geschlagen

Es war glaublich das Jahr 1953. Ich war damals noch jung und beherrschte in physischer Hinsicht den Brienzergrat wie die Steinböck und Gämsen selbst. So war es nicht verwunderlich, dass ich den oberländischen Wildhütern, so es die Zeit erlaubte, beim Steinbockeinfang behilflich war.

Wir hatten eine strenge Woche hinter uns und bereiteten an einem Nachmittag eines Freitags gerade zwei dreijährige Steinböcke zum Transport mit dem Hornschlitten nach Niederried am Brienzersee hinunter vor, als uns eine Funkspruch vom Polizeiposten Interlaken erreichte. Der federführende Wildhüter Hans Fuchs, der das Gerät in der Hand hielt, machte ein ernstes Gesicht und winkte die Umstehenden heran, damit sie auch mithören konnten. Die kreischenden Laute vermittelten eine Botschaft vom Jagdinspektorat Bern, dass zwei Wildhüter sich noch gleichentags in die Gegen Axalp verschieben sollten. Am Axalperhorn seien blinde Gämsen gesehen worden, man habe bereits ein abgestürztes Tier gefunden.

Zu dieser Zeit waren die Zeitungen voll von Berichten über eine grassierende Gämsblindheit, hervorgerufen durch heimtückische Viren, die kurz vorher durch das Tierspital Bern nachgewiesen werden konnten. Arg betroffen waar der Raum Axalp-Tschingelfeld-Faulhorn, während wir gegenüber am Brienzergrat noch keine befallenen Kreaturen geortet hatten.

Eigentlich wollte ich an diesem Abend über das Wochenende zu meiner Familie nach Bern zurück. Das eben Gehörte nahm aber dermassen von mir Besitz, dass ich sofort fragte, ob ich nicht mitziehen könne. Nach kurzem Zögern wurde meinem Ansuchen stattgegeben, wohl aus Dank für die freiwillig geleisteten Dienste.

So schlittelten also die beiden beauftragten Wildhüter mit dem Hornschlitten und den zwei in spezielle Körbe verpackten Böcklein den schmalen Weg zum See hinunter. Dort auf dem "Becher"-Parkplatz warteten schon zwei freiburgische Jagdaufseher mit einem Jeep. Sie mussten die beiden Tiere noch gleichentags ins Greyerzerland bringen, wo sie glaublich am Vanil Noir ausgesetzt werden sollten.

"Becher-Anni", Wirtin im gleichnamigen Dorfgasthof, liess sich nicht lange bitten und tischte ein währschaftes Zvieri auf: Roggenbrot und Hobelkäse. Dazu natürlich auch etwas gegen den Durst. Hastig mussten wir das Dargebotene hinunterwürgen, weil der Bierfuhrmann vom "Feldschlösschen" uns mit seinem Lastwagen nach Brienz mitnehmen wollte. Dieser setzte schon ein Bein neben das andere und liess uns halblaut wissen, er möchte auch noch einmal Feierabend geniessen. So verstauten wir uns auf der Ladebrücke zwischen Harassen und Bierfässern und wurden auf der kurvenreichen Brienzerseestrasse nach Noten durchgeschüttelt. Im Schnitzerdorf plünderten wir noch ein Fresslädeli und erreichten unter lauten Stopprufen gerade noch das anfahrende letzte Postauto auf die Axalp.

Weil wir noch einen Marsch vor uns hatten, bepackten wir uns sofort und stiegen links den Weg hinauf, der zum Hinterburgsee führt. Irgendwo wollten wir dann in einer Sennhütte unterhalb des Axalperhorns oder auch noch weiter hinten gegen Dschingelfeld übernachten.

Das letzte Waldstück hatten wir gerade hinter uns gelassen, als wir die ersten Alphütten oberhalb des Bergsees erreichten. "Chrutmettli" heisst hier die Alp. Wir werweisten, ob wir hier um ein Nachtlager nachfragen sollten, als es plötzlich losging. "Wau, wau, wau" tönte es uns wütend entgegen. Wie der Blitz kam er hinter dem untersten Stall hervorgeschossen, der schwarzweisse Sennenhund. Wohl nicht ganz rassenrein, dafür aber stark und wild. Wütend umkreiste er uns, schaute zwischendurch schnell zu den Hütten empor, um zu sehen, ob der Senn nicht merke, wie gut er seine Sache mache.

Nun, wir drei waren solche Anbellereien längst gewöhnt. So zeigten wir denn auch nicht die geringste Hochachtung vor den heulenden Tiraden dieses Viehwächters. Wie länger ich das Runden drehende Tier beobachtete, umsomehr war ich überzeugt, den Kobold schon einmal gesehen zu haben. Wo, kam mir im Moment nicht in den Sinn.

Die bellende Angstmacherei hinderte uns ganz und gar nicht, zu den Ställen hinaufzusteigen. Der Vierbeiner sauste uns dabei sogar voraus, als ob er seinem Meister unser Kommen kundtun wollte.

Dieser stand bei unserem Erscheinen schon unter dem Türgreis, und nun ging mir ein Licht auf. Das war ja der Paul von Bergen aus Ringgenberg, Schwager vom "Becher-Anni", den ich natürlich samt seinem Hund von der dortigen Gaststube her kannte. Er solle ruhig sein, der Bläss, tönte es gebieterisch zwischen Bart und Tabakpfeife hervor. Und, oh Wunder, es wurde still.

Freudig begrüsste er die beiden Wildhüter, die er offenbar kannte, und fixierte mich dann von oben bis unten. Ob ich nicht der Steinbock-verrückte Dingsda aus Bern sei, wollt er wissen. "Ja, ja, der bin ich". So war der Bann gebrochen, und auch mir schüttelte er kräftig die Hand.

"Klar könnten wir auf seiner Alp übernachten, er freue sich sogar auf unsere Gesellschaft". Und schon fanden wir uns in der kleinen, niedrigen Sennenstube wieder, alsbald bewirtet mit dem Üblichen: Milch, Kaffee, Brot und Käse. Bläss hatte inzwischen seine Meinung auch geändert und behandelte uns wie Freunde. Dabei liess er sich sogar herab, seinen massigen Kopf auf meine Knie zu legen, dabei mit seinen listigen gelbbraunen Augen um einen Bissen heischend.

Bis spät in die Nacht hinein radebrechten wir über weiss der Herr was alles. Hauptthema war wohl die Gämsblindheit und die Frage, ob der Senn auch solche gesehen habe und wo. "Als ob er nichts anderes zu tun hätte als nach solchen Ausschau zu halten", meinte er. Ich selber beschäftigte mich mit Bläss, der mein Kraulen hinten den Ohren dankbar annahm und immer wieder versuchte, mein Gesicht abzulecken, ob es mir gefiel oder nicht. Möglicherweise habe ich mich zuviel mit ihm abgegeben, was am andern Tag noch Folgen haben sollte.

Kaum Morgen, zogen wir die steilen Halden empor, den ersten Flühen entgegen. Vor lauter Keuchen merkten wir gar nicht, dass da noch jemand mitkeuchte. Ja, wer wohl? Klar, Bläss war auch mit von der Partie. Alles Zurückschicken nützte nichts, hartnäckig stelle er sich immer wieder an meine Seite und erwartete wohl Fürsprache. Aber auch mit gutem Zureden liess er sich nicht bewegen, auf die Alp zurückzutrotten. "Nehmen wir ihn doch mit", der findet irgendwie seinen Heimweg schon, kam es zaghaft von meinen Lippen. Dies wohlwissend, dass er uns unter Umständen mehr hinderlich denn nützlich sein konnte. Widerwillig nickten die beiden, mein Dankeschön wohl überhörend.

So nach zwei Stunden entdeckten wir die ersten Gämsen. Ein kleines Rudel befand sich zwischen einer steilen Felswand und uns, etwa auf dreihundert Meter. "Da kommen wir noch näher heran, ohne uns zu verstecken", meinte einer der Hüter, die die Sutzen bereits vorgehängt hatten.

Beim Näherpirschen mussten wir etwas nach links ausweichen, weil uns ein alter, leerer Stall zeitweise die Sicht nahm. Aber dann war es so weit: Auf einem kleinen vorgelagerten Hügel konnten wir uns auf guter Distanz niederlassen und die Gämsen mit unseren Gläsern unter die Lupe nehmen.

Wohl fast gleichzeitig nahmen wir drei Beobachter wahr, dass mindestens ein Tier nicht mehr sehen konnte. Sein Gang war sehr unnatürlich und zögernd. Beim Vorwärtsgehen hob es immer wieder seine Vorderläufe hoch vom Boden ab, nach Hindernissen tastend. Interessant war die Feststellung, dass sich die kranke arme Kreatur ständig inmitten der andern befand. Es sah fast aus, als ob die gesunden Gämsen einen Kreis um die Hilflose bildeten, um sie zu zu führen. Die beiden Wildschützen hatten längst die Zielfernrohre montiert und visierten die Gruppe schussbereit an. Aber das war wie verhext. Immer wieder stand ein anderes Tier vor der zu Erlösenden.

So ging das über Minuten und keiner kam zum Schuss. Einer der beiden hatte dann die fragwürdige Idee, in die Luft zu schiessen. Man erhoffte sich damit, die noch Sehenden würden in alle Richtungen auseinander stieben, während die Blinde ratlos stehen bleiben würde.

Nach langem Zögern hat dann wirklich einer abgedrückt, und eine Reaktion folgte auf der Stelle. Das ganze Rudel hetzte in wilden Sätzen davon, aber zu unserem Entsetzen auch die Blinde. Weil offenbar das Echo auf den Schuss vom hinteren Felsen flür sie lauter tönte, raste sie in unsere Richtung. Das heisst, nicht ganz. In raschen Sprüngen näherte sie sich unausweichlich dem Stall, entschwand einen Moment und schon krachte es. Die Arme war in vollem Lauf in die Hütte gerast und ich hoffte, sie sei sofort tot gewesen.

Bläss, der lauernd und schnüffelnd während der ganzen Zeit neben uns gelegen hatte, ist beim Knall zwar zusammengefahren und aufgestanden, hielt sich aber noch ruhig. Aber dann entdeckte auch er das flüchtende Wild, das ihm gegen alle Regeln entgegenlief. Noch ehe wir ihn hindern konnten, sauste er in Richtung Stall los und ist dort kurz nach dem Aufprall eingetroffen. Wir hörten nur noch sein wildes Knurren. Sehen konnten wir noch nichts, weil sich das Drama hinter der Hütte abspielte. So schnell uns die Füsse trugen, spurteten auch wir an den Ort des Geschehens. Kaum um die Ecke, sahen wir die Bescherung. Bläss hatte sich tief im Hals der offenbar noch lebenden Gämse verbissen. Noch bevor wir eingreifen konnten, gab aber das gepeinigte Tier den Geist auf und wurde von den Qualen der Blindheit und seinen Folgen erlöst. Der Hund hatte aber immer noch nicht losgelassen. Darum packe ich ihn entschlossen am Nacken und riss ihn von der Verblichenen weg. Hechelnd stand er nun da und wartete wohl auf ein Gelegenheit, wieder zuzupacken.

Aber dann stieg in mir plötzlich so ein komisches Gefühl auf. Ist es nicht so, dass jeder Hund, der sich an einem Wild vergreift, von der Wildhut auf der Stelle erschossen wird? Fragend schaute ich meine Begleiter an und suchte zu erahnen, was in ihren Hirnen vorging. "Der hat ja gar nicht gejagt, das war ein blödes Zusammentreffen", stotterte ich und schielte dabei nach den beiden Gämsstutzen, ob der eine oder andere anlegen würde.

"Du mit deinem blöden Hund", knurrte einer, schulterte die tote Gämse und begann abzusteigen. Alle wussten zwar, dass es nicht mein Hund war. Meine Freundschaft zu ihm hat aber möglicherweise sein Leben gerettet. Man weiss ja nie.

Unten bei unserem vorangegangenen Nachtlager sagten wir dem Paul von Bergen nichts. Der hatte nicht einmal bemerkt, dass sein treuer Begleiter auf Abwegen war.

In Brienz hat man der toten Gämse, die vorher noch ausgeweidet worden war, den Kopf abgeschnitten und diesen auftragsgemäss an das Tierspital Bern geschickt.


















Aussteiger

Die Steinböcke von der "Chilchenflue"
Bild: Steingeiss von dort

Da gibt es doch wirklcih am Brienzersee eine winzig kleine Steinbockkolonie, die tiefere Gefilde aufgesucht hat. Und das schon seit Jahrzehnten. Einen knappen Büchsenschuss oberhalb des heimeligen Brienzerseedorfes Niederried, rund um die sogenannte "Chilchenflue", haben sich ein paar Hornträger heimisch gemacht. Wohlverstanden, die bleiben auch den Sommer über da und denken nicht im Traum daran, ihr Dasein bei ihren Artgenossen hoch oben in den ruppigen Augstmatthorn-Felsen zu fristen.

Gibt es etwas Naheliegenderes, als diesen Eigenbrötlern auch einige Zeit zu widmen?

Zu Studien- und Beobachtungszwecken habe ich ein paar Tage Ferien gemacht und in einer heimelgien Hütte im "Bärenloch" Quartier bezogen. Diese ist mir in verdankenswerter Weise von meinem Freund Paul Amacher zur Verfügung gestellt worden. Wohlbehütet, von Wald umgeben, liegt sie auf einer kleinen Alp oberhabl Ringgenberg. Offenbar haben heir zu Urzeiten Bären ghaust.

Es ist kurz nach Ostern. Wilde Schneestürme haben über die Festtage die ganze Brienzerseegegend in den tiefsten Winter zurückgeworfen. Lawinen sind niedergegangen und haben gar manchem eiligen Autofahrer wieder das Fürchten gelernt.

Einige frühlingshafte Tage und eine intensive Sonneneinstrahlung haben aber die weisse Grenze rasch wieder nach oben versetzt.

Auch schön ist es jetzt im "Bärenloch". Ein saftiges Grün sticht in die Augen und zieht eine Vielzahl von Gämsen an, denen es weiter oben noch nicht so recht behagt. Aufmerksam, immer wieder verhoffend, äsen sie gegen Abend und bis in die frühen Morgenstunden hinein rund um die Hütte. Welch ein Freude, von der verdunkelten Stube aus fast Auge um Auge mit diesem scheuen Alpenwild zu verweilen.

Und dann die bunt gemischte Vogelwelt. Einem Liebhaber dieser gefiederten Kreaturen würde hier oben das Herz im Leibe lachen. Während meinem Aufenthalt habe ich nicht weniger als folgende Arten ausgemacht: Mäusebussard, Habicht (fast ausgestorben), Sperber, Kolkrabe, Dohle, Elster, Eichelhäher, Tanenhäher, Amsel, Ringdrossel, Buntspecht, Schwarzspecht, Star, Buchfink, Tannenmeise, Kohlmeise, Bachstelze, Rotschwänzchen, Kleiber, Zaunkönig.

Aber nun zurück zu den Sonderlingen, denen dieses Kapitel gewidmet ist: den Steinböcken an der "Chilchenflue".

Ein steifer Wind hat über Nacht dichte Nebelschwaden den Berghang entlang getrieben und ein feiner Regen sang schon vor dem Morgengrauen sein eintöniges Lied auf das Hütendach. Sonst war die Nacht still, und lediglich zwei raufende Füchse haben gelegentlich die Ruhe mit ihrem aufreibenden Gekläff gestört.

Trotz dem unfreundlichen Wetter mache ich mich recht früh auf den Weg und ziehe leicht schräg hinunter in Richtung der genannten Fluh. Zwar nehmen mir das einige Gämsen übel und verdrücken sich in langen Gängen in den nahen, höher gelegenen Mischwald. Einem vorwitzigen Tannenhäher gefällt dieser Frühaufsteher auch nicht. Mit lautem Geschrei warnt er die umliegende Fauna vor einem herannahenden "Feind".

Nun, ich weiss, dass sich meine gehörnten Freunde da unten von dieser Warnung nicht stören lassen. Zutraulich und selbstsicher, wie das Steinwild nun einmal ist, werden sie höchstens für einen Moment den Kopf heben, die Ohren ein wenig spielen lassen und sofort wieder zur Tagesordnung übergehen. Was kümmert sie schon der Mensch! Diese Zweibeiner sehen sie fast täglich an ihrem Einstand vorübergehen, und sie wissen sehr wohl von deren Harmlosigkeit ihrer Rasse gegenüber.

Der Tag ist nun ganz heraufgezogen. Rieseln tut es immer noch, und es sieht auch nicht darnach aus, als würde es heute noch besser.

Dann erreiche ich den gelichteten Föhrenwald, der sich hart oberhalb der "Chilchenflue" den steilen Hang hinauftastet. Ich muss noch weiter hinunter, denn hier oben ist es wie in einer Kirche. Nichts rührt sich, nichts ist zu sehen. Mit Leichtigkeit führt mich der Gratweg zu den zerklüfteten Felsen.

Ich schaue nach links, ich schaue nach rechts. Immer noch Ebbe in meiem Gesichtsfeld. Aber ein Herumstreunen hat hier keinen Sinn, und so setze ich mich nach einigen Schritten auf eine kleine Erhöhung mit Steinen und winzigen Felsen. Ein Warten bei schönerer Witterung könnte ich mir zwar besser vorstellen, aber was tut man nicht seinem Hobby zuliebe.

So vergehen die Minuten. Aber halt, war da unten nicht eben ein Rascheln im dürren Laub zu hören? Ob es wohl nur eine scharrende Amsel ist?

Aber nein, jetzt sehe ich's. Ein Steinkitz, zwar schon fast ein Jährling, glotzt verständnislos in meine Richtung. Aha, mein Kleiner; wo du bist ist auch deine Mutter, und sicher noch weitere Artgenossen. Ich bin nun überzeugt, dass das Nasswerden nicht unnütz sein wird. Also warte ich weiter, und das gar nicht so lange.

Zuerst sehe ich nur den Kopf der alten Steingeiss. Aber im Handumdrehen steht sie neben ihrem Sprössling und gönnt mir ebenfalls einige Blicke. Keine Spur von Angst. Ja, ich bilde mir sogar ein, in ihren Augen würde sich eine gewisse Verachtung spiegeln. Stramm steht sie da, und ihr leicht gerundeter Bauch zeigt, dass sie schon wieder neues Leben in sich trägt.

Das Interesse an mir ist bald erloschen. Gelangweilt wenden sich die beiden ab und schenken ihre Blicke etwasem, das weiter unten liegt.

Unverhofft versetzt die Alte dem Kleinen einen sanften Hornstoss in den Hintern, was das Jungtier veranlasst, einige verdutzte Sprünge nach vorn zu machen. Das bedeutet ganz einfach Platz machen und weiter ziehen.

Der Grund ist alsbald ersichtlich. Von der Seite her drängen noch weitere Tier ins Blickfeld. Langsam und bedächtig ziehen Steingeissen mit Jährlingen, dazwischen auch mal ein zweijähriges Böcklein, einer Prozession gleich nach rechts und verlieren sich im Gewirr der steilen Gegend.

Wo wohl die älteren und alten Böcke sein werden? Dem Vernehmen nach muss es hier auch welche geben. Sogar ein ganz Mächtiger soll dabei sein.

Diese "Herren" sondern sich vom Frühling bis in den Spätherbst von den Geissen und dem Geraffel (Jungtiere) ab. Ich begebe mich also auf die Suche und taste mich vorsichtig am oberen Rand der "Chilchenflue" entlang. Ein an und für sich ungefährliches Unterfangen, muss man doch bloss manchmal eine kleinere Lücke überspringen.

Es mag wohl eine weitere halbe Stunde vergangen sein, da sehe ich in etwa dreissig Meter Entfernung durch den lichten Nebel einen Bock stehen, der ganz ordentlich aufgesetzt (grosse Hörner) hat. Sein Alter schätze ich auf acht bis zehn Jahre. Ganz genau kann man das auf diese Distanz nicht sagen, ist doch die Anzahl der sich am oberen Rand der Hörner befindlichen Knöpfe nicht mit den Lebensjahren identisch. Die genaue Alterbestimmung stellt man an der Innenseite an den Jahrringen fest, genau wie bei Bäumen.

Majestätisch bockt der Bursche auf einem kleinen Felsvorsprung auf. Unbeweglich und urwüchsig formt er ein Bild wie aus Stein gehauen. Obschon ich sicher bin, dass er mich vorgängig sowohl gehört wie gesehen hat, würdigt er mich nun keines Blickes mehr. Man könnte wirklich meinen, er sei ausgestopft, würde nicht gelegentlich ein reflexartiges Zucken über seine dicht behaarte Decke gehen. Immer dann, wenn ein grosser Tropfen vom darüberstehenden Baum darauf fällt.

Systematisch suche ich nun mit dem Feldstecher mein von Bäumen gestörtes Blickfeld ab. Dabei übersehe ich fast, dass neben dem Erstgesehenen auf einem schmalen Grasband drei weitere Steinböcke liegen. Einen davon möchte ich schon als kapital ansprechen. Er trägt auch den grössten Hornschmuck, den er charakteristisch mit Kopfbeugen nach vorn auf einem Stein abstützt.

Der vorderste nimmt sich nun doch die Mühe, mich näher zu beaugapfeln und den Wind prüfend durch den Riecher zu ziehen. Ganz gut gefallen tu ich ihm wohl nicht, denn er gibt plötzlich ein gut hörbares Schnaufen von sich, das wohl einen Warnpfiff andeuten sollte. Keine Spur von Erregung ist ihm aber anzusehen. Zwar bemüht sich der Stehende auch, an mich doch einige Aufmerksamkeiten zu verschwenden. Mit einem langsamen, gleichmässigen Herumschwenken des Kopfes in meine Richtung gibt er mir zu verstehen, er wisse genau, wo ich sitze.

Das unfreundliche Wetter nervt mich zusehends, und so ziehe ich mich langsam zurück. Zudem will ich das Vormittagsschläfchen meiner vierbeinigen Freunde nicht weiter stören.

Seelisch befreit und erfreut über die kurze Begegnung mit dem Steinwild an der "Chilchenflue", gehe ich wieder zurück in die Bärenloch-Hüte, von wo aus sich bald einmal der Geruch frischen Kaffees verbreitet.


























Donnerstag, 11. Dezember 2008

Der fürchterliche Sturz

Dem Rind "Mira" gewidmet. Foto am "Tag danach", aufgenommen am 31. August 1983

Die nasskalte Witterung drang damals nicht in den kuhwarmen Stall von Fritz Bieri im Ottenbach bei Häusernmoos, als Mira an einem Spätwinterabend das Licht der Welt erblickte. Obschon von kräftigen Händen mit Stroh trockengerieben, zitterte sie am ganzen Leib, als ihr der erste Atem in die Lungen strömte. Ein paar Minuten ist sie wohl wie tot da gelegen, reckte nur hie und da die langen, hageren Beine. Als es ihr endlich gelang, das rotweiss gefleckte Köpfchen etwas anzuheben, fühlte sie langsam eine wohlige Wärme durch den jungen Körper fliessen. Gleichzeitig fing sie an, verschwommen Gestalten zu sehen. Grosse vierbeinige Wesen drängten sich Schwanz an Schwanz einer "Krüpfe" entlang, und neben ihr standen umsorgend zwei Zweibeiner.

Die Zeit verstrich. Dann aber fühlte die Neugeborene einen unbändigen Drang, sich auf ihre wackligen, im Verhältnis zum Körper zu grossen Beine zu stellen. Nach einigen untauglichen Versuchen ist das dann auch auf ungeschickte Weise gelungen. In steifer Grätsche ist sie dagestanden und wusste nicht, was sie nun mit den langen Stelzen tun sollte. Wahrscheinlich fühlte sie, dass sie umfallen würde, hätte sie versucht, einen Schritt zu tun. Später hat sie ein paar Mal die knorrigen Beine angehoben und zu gehen versucht. Aber daran hinderte sie ein ekliger Strick, den ihr von Arbeit gezeichnete Hände um den zarten Hals gelegt hatten.

Ihr war noch immer sehr hilflos zumute. Zudem rege sich in ihrem Bauch so ein komisches Gefühl, weil sie langsam von Hunger geplagt wurde. Ihre Mutter, bei der sie hätte trinken können, stand unerreichbar weier hinten. Aber die gleichen Hände, die ihr vor einiger Zeit das Seil überstreiften, brachten dann einen hölzernen Küel mit einem köstlichen weissen Nass. Als man ihr dann noch zwei Finger in den zahnlosen Mund streckte, spürte sie die warme und nahrhafte Witterung, folgte der Versuchung und ist herrlich satt geworden.

Links und rechts neben ihr vergnügten sich noch andere Kälber, teils grösser und später auch kleiner als sie. Und die ganze Schar wuchs und wuchs, die Flüssignahrung machte Kraftfutter, Heu und Gras Platz.

So rollten die Tage herauf und hinunter, und es kam die Zeit, als sie mit ihren Gespanen erstmals die Schwüle des Stalles verlassen durfte und auf die Kälberweide unweit des stattlichen Gehöfts geführt wurde.

Was gab es da nicht alles zu bestaunen! Der bellende Hofhund jagte ihr zwar zuerst einen gehörigen Schreck ein, und die zwei Katzen brachten die Kleine so richtig zum Glotzen. Ganz abgesehen vom ewig gackernden Federvieh, das sie vollends aus dem Häuschen brachte. Überhaupt passierte noch vieles um sie herum. Am meisten Freude bereiteten ihr die vielen buntfarbigen Schmetterlinge, die im lauen Aufwind über die Gräser gaukelten. Wenn diese sich mit ausgespannten Flügeln auf Wiesenblumen niedersetzten oder wie atmend sie auf und zu taten, konnte sie nicht aufhören zu staunen.

Vor lauter Aufregung kam es Mira, wie sie laut Zuchtbuch genannt wurde, gar nicht in den Sinn, am grossflächigen, satten Grün zu naschen. Erst später, als ihre Artgenossen schon fast genug hatten, guckte sie gelehrig zu und probierte ebenfalls, mit ruckartigen Bewegungen einige Halme in den nun bereits bezahnten Mund zu kriegen. Als ihr das dann immer besser gelang, vergass sie alles um sich herum, und sogar die lästigen Fliegen konnten sie nicht mehr stören.

So ging dieser Freudentag bei einbrechender Dämmerung zu Ende, und bevor es ganz dunkel wurde, fand sie die ganze Schar im Stall wieder. Zerst machte sie das ganz traurig, und nur der Trost beruhigte sie in der berechtigten Hoffnung, es würden noch viele solche Tage folgen.

So war es dann auch, und die Jahreszeiten folgten eine der anderen.

Es kam dann der Tag, wo Mira erstmals auf die Alp auffahren durfte. Sie war inzwischen zu einem stattlichen Rind von anderhalb Jahren herangewachsen, und war ganz aufgeregt von den neuen Eindrücken hoch oben im Napfgebiet, auf der Lushütten-Alp.

Gut gepflegt vom Alphirten Hans Häusler und seiner Frau nahm sie mit vielen andern Quartier im hinteren des zweiteiligen Stalles knapp unter der Alpwirtschaft "Obere Lushütte".

Nun folgten die herrlichsten Tage ihres noch jungen Lebens. Zwar war die ganze Herde hauptsächlich mit der Nahrungsaufnahme beschäftigt, dafür war man ja schliesslich auch da. Die schmackhaften Alpenkräuter dufteten zudem auch gar verlockend. Nur der drängede Muni ärgerte sie manchmal. Der wollte nicht verstehen, dass auch ausgewachsene Rinder nicht alle Tage stierig sein konnten.

Der Prachtssommer 1983 zeigte eigentlich nur im sonst wärmsten Monat August ein eher trübes Gesicht. Schwere Nebelschwaden umwogten seit Tagen das hügelige Gelände, und ein recht kühler Nieselregen drang durch Haut und Knochen. Die ganze Kuh- und Rinderherde war deshalb manchmal froh, wenn der allgegenwärtige Hans sie ab und zu in den trockenen Stall lockte.

Der Tag zum Dreissigsten des erwähnten Monats war nicht anders, ja eher noch trüber in den ersten Morgenstunden. Der Nebel schien undurchdringlich auch bei Tagesanbruch. Alles war nass, selbst wenn kein eingentlicher Regen fiel.

Mira war zu dieser Zeit ganz oben auf dem Aussichtshügel, nicht weit von der Alpwirtschaft, da wo für aussichtshungrige Ausflügler ein Ruhebänklein hingezimmert wurde. Auf der gleichen Höhe wird das Alpgelände durch einen hölzernen Weidhag abgegrenzt, weil kurz dahinter ein so steiler Wald sich den Hang hinabtastet, dass männiglich nicht weiss, wie sich die trutzigen Tannen überhaupt halten können. Unmittelbar hinter dem Hag gibt es Stellen, wo es haushoch senkrecht abfällt.

Das sollte Mira noch bald einmal erfahren.

Warum an diesem Tag die Abschrankung an der höchsten Stelle, gerade neben dem Bänklein, etwa auf zwei Meter zusammengedrückt war, konnte eigentlich nie ganz geklärt werden. Fachkenner munkelten, der an allem schuld sein sollende Stier habe daneben Rinder oder Kühe beschlagen und im daraus entstandenen Gedränge die Beschädigung verursacht. Sei dem wie es wolle, auf alle Fälle war die Lücke da, und ein drohendes Unheil eigentlich nur noch eine Frage der Zeit.

Mira hatte unterdessen genau diese Stelle erreicht und merkte in der Milchsuppe gar nicht, dass sie sich auf Abwege begab und plötzlioch hinter der Ruhebank stand. Obwohl es dort eher Tannennadeln denn Gras gab, schnupperte sie sich unbefangen vorwärts und wurde erst etwas stutzig, als der Boden so komisch unter ihrem Gewicht nachgab. Zuerst nur ganz unmerklich, aber dann immer stärker kam die Gute in Standschwierigkeiten.

Instinktiv fühlte das Rind nun eine unmittelbare Gefahr und machte dabei einen nicht wieder gutzumachenden Fehler. Sie war schliesslich keine berggewohnte Geiss, der solche Klippen nichts zu schaffen machen. In ihrer Panik drehte sie sich brüsk nach rechts, was ihren ausschwenkenden Hinterteil nun endgültig dem Abgrund entgegen brachte. Die beiden Hinterhaxen sackten ab, und es nützte ihr auch nichts mehr, vorne verzweifelt so zu sperzen, dass die "Mutten" nur so flogen.

Dann kam, was kommen musse. Der schwere Körper sauste gute sechs Meter frei durch die Luft in die Tiefe und schlug dermassen hart auf, dass der Schellenriemen riss und das Geläut weit fortgeschleudert wurde. Aber Glück im Unglück. Die Aufprallstelle war so steil, dass Mira fast ungebremst durch das Unterholz abwärts sauste, sich dabei mehrmals überschlagend.

Schäg unten erschreckte der dumpfe Knall und das nachfolgende Schleifgeräusch einen Rehbock dermassen, dass dieser mit allen vieren in die Luft juckte und dann überhastet in langen Gängen dem Tal zusauste. Auch die drei Eichelhäher auf den nahen Tannenspitzen vergassen ob dem Schreck ganz ihr Geschrei, halsten dann aber um so lauter los, als ob sie selber dran glauben müssten. Erst als sie sich einigermassen erholt hatten, strichen sie ab in den Wald, um das Gesehene der ganzen Fauna zu verkünden.

Das geschundene Rind war inzwischen an zwei Baumstrunken zum Stillstand gekommen, nachdem es vorgängig durch einige Haselsträuche in seiner Schussfahrt gebremst worden war. Benommen lag es nun da, wusste nicht, was ihm geschehen war, und fühlte in seinem Schock nicht einmal die Schmerzen, die ihm einige Prellungen und Schürfungen verursachten.

Ihr Hirn war noch leer und konnte keine Eindrücke aufnehmen. Die Augenlider wurden schwer und schwerer, deckten vollends die Augen zu. So lag Mira wie schlafend für einige Minuten da, und nur gelegentliche nervöse Hautzuckungen verrieten, dass sie nicht das Zeitliche gesegnet hatte. Aber dann, langsam zwar, erwachten ihre Lebensgeister, und sie hob erstmals wieder ihr brummendes Haupt.

Es verstrich weitere Zeit, bis der Erhaltungstrieb sie ermutigte, zwei, drei Aufstehversuche zu wagen. Und siehe da, es gelang. Umständlich zwar noch, aber dann immer sicherer werdend, hatte sie bald wieder ihre Standfähigkeit erreicht. Dabei musste sie höllisch aufpassen, nicht wieder in diesem verfluchten Gelände abzurutschen.

Nach dem Prinzip, dass es abwärts immer müheloser geht als den Gipfeln zu, tastete sie sich vorsichtig voran, einen Halt um den andern suchend. Das ging langsam, verdammt langsam. Zudem tat ihr der hintere rechte Stotzen doch bei jedem Schritt recht weh, aber es ging.

So verstrich die Zeit, und die geplagte Mira kam dem Talgraben immer näher. Zusätzlich angelockt von fernem Herdengeläut, das vom gegenüberliegenden Hang zu ihren Lauschern drang, hoffte sie bald einmal ihresgleichen zu finden. Sie konnte ja nicht wissen, dass es sich beim Gehörten um anderweitiges Alpvieh handelte, das sie wegen des dichten Tanns gar nicht ausmachen konnte.

Der Nebel war inzwischen auch verschwunden, und einige Sonnenstrahlen drangen verschmitzt durch die Astlücken, als ob sie das einsame Geschöpf aufrichten und feiern möchten. Auch die zahlreichen Tannenmeisen fühlte sich durch die angenehme Wärme wohlig angeregt und ihr vielfältiges Zirpen drang aufmunternd durch die feuchtschwangere Luft in diesen verlassenen Berghain.

Aber war da nicht urplötzlich noch etwas anderes zu hören? Die Lebensgeister im Rind waren nun doch wieder dermassen erwacht, dass sie jegliche Regungen wahrnahm. Ihre Ohren fingen an zu spielen, und sie richtete ihren Kopf nach oben, wo sie ganz deutlich eine menschliche Stimme zu vernehmen glaubte.

"Chumm, sä, sä, sä, chumm, sä, sä, sä!"

Wahrhaftig, sie hatte sich nicht getäuscht. Dort oben stand er, ihr Hirt.

Hans Häusler, der rüstige Senn auf der Lushütten-Alp, hatte Stunden zuvor beim Eintreiben das Fehlen des Rindes gemerkt. Von Sorge gezeichnet, hatt er seine Feststellung vor der Alpwirtschaft kund getan, wo ich mich aufhielt und bald einmal seine Soirgen teilte. Eine sofortige Nachsuche drängte sich auf, weil an ein selbständiges Auftauchen der Vermissten nicht geglaubt werden konnte, denn weit und breit war kein Nächzügler auszumachen.

Auf den gebrochenen Zaun oben beim Bänklein, den ich vorgängig entdeckt hatte, aufmerksam machend, begab sich Hans dorthin. Obwohl es fast unwahrscheinlcih schien, das Tier habe sich an dieser Stelle davongemacht, folgte der Hirt einer inneren Ahnung und stieg runter gegen das Riedbad.

Nun, das Geschehene weiss der Leser inzwischen. Den Riesenstein, um nicht zu sagen Felsbrocken, der dem Senn vom Herzen fiel, konnte man fast aufschlagen hören. Liebevoll hat er das wiedergefundene Rind gestreichelt, ihm ermutigend zugesprochen und gleichzeitig seine Flanken nach Verletzungen abgesucht. Da sich diese aber im Rahmen hielten, musste nun an das Wie und Wo gedacht werden.

In berggewohnter Manier machte sich der menschliche Fürsorger auf, um zwar die kürzere, aber auch anstrengendere Route zu wählen. Zickzack hinauf, wo man runtergekommen war.

Und siehe da: Mira folgte ihm auf Schritt und Tritt, ohne dass sie dazu ermuntert wurde oder er sie sogar vor sich hintreiben musste. Ein anstrengendes Unterfangen war das alleweil; aber die glückliche Erregung des Wiederfindens liessen die beiden erst gar nicht die Beschwerden erkennen.

Als das Ziel erreicht war, reihte sich unsere Mira im Stall ein, als ob nichts geschehen wäre. Schon am andern Tag hat sie sich wieder an den Alpenkräutern erfreut, und kein Mensch hätte auch nur geahnt, was die Niedliche hinter sich hatte.


Zufällig war ich bei meinen Wanderungen auch da und habe alles hautnah mitbekommen. Durch die gefundenen Spuren an der Absturzstelle war es möglich, die Geschichte so niederzuschreiben, wie sie vorliegt. Und über den Werdegang von Mira habe ich mich später beim Eigentümer in Häusernmoos selbst erkundigt, sie sogar besucht und im dortigen Stall getätschelt.
























 

Kreuzfidele Kolkraben auf Rotschalp

Dieser grösste Rabenvogel in der Schweiz ist über den ganzen Brienzergrat hinweg vielfach präsent und auch unüberhörbar. Sein lautstarkes, heiseres Quaken unterstericht seine Präsenz den ganzen Tag über. Schwingt er sich in die Luft, meinen einige laienhafte Bergwanderer, leibhaftige Adler vor sich zu haben, ist doch die Flügelspannweite bis gegen 1,2 Meter recht ansehnlich.

Die Einheimischen rund um den Brienzergrat benamsen diesen Kobold mit "Bergrabb", und in Österreich habe ich einmal lediglich den Namen "Rabb" vernommen.

Im Tannenwald gleich unterhalb der Rotschalp waren und sind sie heute noch recht zahlreich anzutreffen. So hatte ich früher während Mussestunden oft Gelegenheit, die Schlaumeier zu beobachten. Dabei habe ich bald einmal entdeckt, dass sie Futter annahmen, wenn sie einem über den Weg trauten. Zwar frassen sie mir das Brot oder den Käse nicht gerade aus der Hand, holten aber die Brocken sofort, wenn ich diese demstrativ hinschmiss. Dabei gingen sie miteinander nicht gerade zimperlich um, hackten aufeinander ein und versuchten, jeder zuerst an die Mahlzeit zu gelangen.

Diese Grossraben sind aber auch Fleischfresser und sind als leidenschaftliche Nesträuber mehr als berüchtigt. Die Singvögel aus der Gegend können da leider ein trauriges Liedchen darüber singen.

Es war an einem langweiligen Nachmittag vor manchen Jahren während der Hochjagd. Ich hatte mich als Nichtjäger in einer fast neuen und geräumigen Sennhütte eines guten Bekannten eingerichtet. Wie gewohnt war ich wieder einmal auf Wildbeobachtung am Brienzergrat. Gegen Mittag waren noch zwei Hochwildjäger aus Bern heraufgekommen und machten sich ebenfalls in der warmen Stube breit.

Der Himmel war überzogen, und eine steife Brise durchzog die grosse Alpmulde. Ein warmer Pullover und die gut gepolsterte Windjacke erlaubten mir aber einen Pirschgang in der näheren Umgebung. Die Berge und Hügel ringsum waren von Wild wie leer gefegt. Ich konnte im Moment nichts, aber auch gar nichts ausmachen. Dabei malte ich mir schon aus, was flür enttäuschte Gesichter die beiden nicht gerade berggängigen und momentan schlafenden Weidmänner bei ihrem Erwachen machen würden. Nachdem ich mich noch etwas nach oben verzogen hatte, sah ich fast zuoberst am Tannhorn doch noch ein kleines Rudel von Gämsen. Diese waren aber kaum erreichbar und konnten für diesen Abend sicher unangefochten in die Nacht hinein äsen. Und die paar kapitalen Steinböcke oben in der Briefenhorngegend waren eh nicht jagdbar.

Ich weiss nicht mehr, warum plötzlich Erinnerungen in mir einfuhren, wie ich früher als Lausbub Hühner und Hähne meiner bäuerlichen Nachbarn in Wynigen mit von Schnaps getränktem Brot voll laufen liess, mich dabei an den unaufhörlichen Krähereien der Güggel und herumtorkelnden Hennen ergötzend.

Wie dem auch sei, beim ersten Anblick eines Kolkraben nach meiner Rückkehr auf die untere Rotschalp erwachte in mir wieder der Schalk. Rasch waren Brotwürfel geschnitten und die Schnapsflasche aus dem Rucksack geholt. Gottlob hat niemand gesehen, wie viel von diesem kostbaren Nass ich für die Schwarzröcke vergeudet habe.

In einer Blechschüssel, worin man sich sonst die Hände wäscht, verstaute ich die Herrlichkeit und stieg gegen den Wald hinunter. Dabei war ich sicher, von den Raben beobachtet zu werden. Es war zu hoffen, sie würden sich vor lauter Gwunder über kurz oder lang bei dem gedeckten Tisch einfinden.

Oben auf dem Feierabendbänklein vor der Sennhütte setzte ich mich nun hin und wartete der Dinge, die da kommen sollten. Gämsjäger Robert gesellte sich auch bald einmal an meine Seite und konnte ein Lachen nicht verbergen, als ich ihm die Story erzählte. Ein "Saucheib" sei ich, so schöne Vögel dermassen zu plagen, meinte er, wohl nicht ganz überzeugt von seinen Ausführungen; denn ich hatte im Jahr zuvor gesehen, wie gerade dieser Röbeli seinen Gämsstutzen auf diese jagdbaren Gesellen eingeschossen hatte. Und das war tödlich, während bei meinen "Tierversuchen" höchstens ein gefiederter Kater zurückblieb.

Inzwischen balgten sich rund um das nasse Brot ein gutes Dutzend der gefrässigen Raben und etliche waren noch im Anflug. Von oben sah es aus wie ein sich überschlagender schwarzer Knäuel, quakend und krächzend.

Die Wirkung des hochgradigen Wässerchens liess kaum drei Minuten auf sich warten. Das Geschrei wurde immer lauter, und ihr sonstiges krähenhafte Benehmen enthemmter, mehr und mehr abartig. Einige fingen regelrecht an zu tanzen, sprangen dabei bolzengerade über einen halben Meter in die Luft, ohne die Flügel zu benutzen. Dann gab es solche, die hatten Mühe, überhaupt noch auf ihren zwei Beinen zu stehen und stützten sich mit ihren Schwingen ab. Ganz verwegene Draufgänger schwangen sich sogar empor und führten dort, sich immer wieder in der Luft überschlagend, Kapriolen aus, dass wir Zaungäste uns vor Lachen die Bäuche hielten. Wenn es dem einen oder anderen der Vögel gelang, auf einem Ast der Tannen aufzusetzen, kippte er sogleich hinten- oder vornüber weg und landete wie ein Segler mehr oder weniger sanft im Alpgras.

Die ganze Vogelschar schien aber fröhlich und verspielt, wie wir Menschen ja auch, wenn wir einen draufhaben. Ich hatte denn auch nie das Gefühl, sie wären ob ihrem ungewohnten Zustand verängstigt oder in Panik. Ganz im Gegenteil. Ihr ausgelassener Tanz, ihr überschwängliches Gejohle nach Krähenart sprach für sich.

Einige Frechlinge, die am meisten getränktes Brot intus hatten, fingen langsam an zu schlafen. Schön am Boden, nicht wie gewohnt auf den Bäumen. Die schwächeren, die wenig oder nichts vom Mahl erwischt hatten, fanden sich bald einmal in den Tannen wieder, wetterten über den entgangenen Schmaus oder lamentierten um die Wette, so als ob sie die Neige des Tages beschwören wollten, noch nicht der Nacht zu weichen.

Die Gämsjäger machten sich auch noch auf zum Pirschgang. Dies obwohl ich ihnen beteuert hatte, die Gegend sei frei von jagdbarem Wild. Sie kehren kurz vor dem Einnachten zurück, natürlich ohne Beute, wie vorausgesagt. Der eine konnte sich nicht "verklemmen", mir bissig unter die Nase zu reiben, die Tiere vorher vergrämt zu haben. Dies machte er ganz bewusst, denn er hatte nicht vergessen, dass ich zwar nicht die Jagd an und für sich kritisiere, aber das Jagdgesetz und einige Jäger schon.

Beim ersten Tageslicht am andern Morgen galt meine Sorge natürlich meinen gefiederten Freunden, denen ich doch etwas übel mitgespielt hatte. Doch bei diesen schien die Welt schon wieder in Ordnung zu sein. Diejenigen, die im Gras übernachtet hatten, machten die ersten Flugversuche, und über kurz oder lang waren alle weg, unten im Wald. Aber komisch ruhig war es schon. Das alltägliche Frühkonzert fiel für einmal aus. Da waren offenbar noch zu viele Zwerglein in den Rabenhirnen.

Als ich das leergefressene Wasserbecken zurückholte, musste ich zu meinem Leidwesen feststellen, dass mein ausgelassenes Tun bei den lieben Kerlen doch ein Todesopfer gefordert hatte. Anhand von ausgerissenen Federn und aneren einschlägigen Spuren war unschwer auszumachen, dass ein Fuchs, Baum- oder Steinmarder an der ungewohnt auf dem Boden schlafenden Gemeinde zu einer unverhofften und leichten Mahlzeit gekommen war.














Mittwoch, 10. Dezember 2008

Nasse Begegnung mit Wildkatzen

In Europa sind ausschliesslich noch die Eurasischen Wald-Wiltkatzen hemisch, wenn auch sehr selten und fast nicht mehr feststellbar. Sie sind im Durchschnitt schwerer als Haus- oder Rassekatzen und auch nicht deren Vorfahren. Diese stammen aus Nordafrika.

In der Hohen Tatra hae ich bei einem früheren Wildbeobachtungs-Aufenthalt einige dieser Art gesehen, mit tatkräftiger Unterstützung eines einheimischen Forstwarts.

Dann war ich durch Zufall auch dabei, als oberhalb des Brienzersees, wo ich mich bestens auskenne, junge Wildkatzen ausgesetzt wurden.

Es war kutz nach der Schneeschmelze an einem schönen Frühlingstag in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts, als vierzehn jüngere Tiere der Freiheit wiedergegeben  wurden. Sieben stammten aus der Zucht des Berner Tierparks Dählhölzli, die andern sieben sind in der Sowakei für dieses Experiment eingefangen worden. Bei der Freilassung sind die Wildgeborenen wie der Blitz im dichten Tann verschwunden, während die Einheimischen verdutzt in die Sonne blinzelten und richtig verscheucht werden mussten.

Leider habe ich in all den nachfolgenden Jahren keine Spur dieser Katzen ausmachen können, und auch der mir bekannte Wildhüter Hans Fuchs aus Brienz war mehr als erstaunt, keines der immerhin vierzehn Stück je geortet zu haben. Möglicherweise stand das im Zusammenhang mit der Aussage eines Jägers mir gegenüber, er schiesse in dieser Gegend auf jede Katze, die sich im Wald bewege!

Am besten gehalten und mit viel Geduld auch sichtbar haben sich die Wildkatzen bei uns im Waadtländer und Neuenburger Jura.

So bin ich dann auch einmal vor langer Zeit einer Einladung eines ehemaligen Schulkollegen gefolgt, für einige Tage in seinem Hof in Le Brassus einzukehren. Er versicherte mir nämlich, schon vielfach in den frühen Morgenstunden an den Gestaden des Lac de Joux, dort wo die Bewaldung bis ans Ufer reiche, Wildkatzen gesehen zu haben. So bin ich denn fast eine Woche lang in der Dämmerung auf der Lauer gelegen. Nichts, aber auch gar nichts, kam mir dabei unter die Augen. Enttäuscht gab ich bei einem abendlichen Höck der Runde kund, die Übung abzubrechen. Ein zufällig anwesender Jäger konnte mich aber in der Folge überreden, es doch beim neuenburgischen Lac des Brenets zu versuchen. Hinten am Saut du Doubs seien von seinen Kollegen mehr als einmal "Waldschleicher", wie er die Wildkatzen nannte, gesehen worden.

Schon am Tag danach hae ich mich in einem kleinen Gasthof in Les Brenets eingefunden und ein Zimmer bezogen. Beim Mittagessen entdeckte ich als erstes auf einem an der Wand genageltem Brett eine stattliche ausgestopfte Wildkatze. Aha, dachte ich. Woher die stamme, wollte ich von der freundlichen Serviertochter wissen. "Da müsse ich schon den Patron fragen", meinte sie gelassen. Der ist dann auch in der Küchenmontur zum Kaffee gekommen, wurde aber erst bei einem nachfolgenden Halbeli "Neuenburger" so recht gesprächig. "Ah, der da oben", meinte er bedächtig, den habe sein Grossvater selig vor Jahren mit der Flinte erlegt. Die seien ja schädlich und würden Hühner und Junghasen schlagen. Auf meine Bemerkung, diese Katzen seien ja geschützt und würden in der Hauptsache von Mäusen und Vögeln leben, hatte er höchstens ein mittleidiges Lächeln übrig. Wie vor ihm der Jäger sprach auch er eingentlich ungefragt von Beständen hinten am Saut du Doubs. Wohl wegen meiner aufleuchtenden Augen hat er mein Interesse gemerkt und mir geraten, bei einer eventuellen Pirsch aber dann früh aufzustehen. Dabei empfahl er mir auch, sein Fahrrad zu nehmen, weil an ein Herankommen mit einem andern Fahrzeug nicht zu denken sei.

Am andern Morgen war ich schon vor dem ersten Tageslicht auf dem beschriebenen Weg unterwegs. Dort, wo es auch für das Zweirad zu eng wurde, bin ich auf Turnschuhen dem mit Felsen gesäumten Weg und von überhängenden Bäumen bestückten Ufer entlang geschlichen, immer wieder verhoffend und lauschend. Der Tag war inzwischen heraufgekommen und bot mir Gelegenheit, nach einer Tarnung Ausschau zu halten.

Unbeweglich lauernd mag wohl eine Stunde vergangen sein, als ich whrhaftig Laute vernahm, die sich anhörten wie ein heiseres Miauen. Meine Sinne spannten sich und richteten sich aufmerksam in Richtung der fremdtönenden Geräusche.

Die Minuten verstrichen, und meine Nerven taten vor Anstrengung fast weh, als ich auf einem über den See hängenden Ast eine kurze Bewegung wahrnahm. Und dann noch eine.

Ganz behutsam, nach Indianerart, habe ich mich Zentimeter um Zentimeter in Richtung des Geschehens geschlichen. Als endlich der Gesichtswinkel günstig stand, wusste ich, dass mir ein Glückstag beschieden war.

Da tummelten sich wahrhaftig zwei junge Wildkatzen in der Schwebe und spielten mit im Wind flatternden Blättern. Vor lauter Begeisterung habe ich offenbar eine hastige Bewegung gemacht, was die unter dem Baum sitzenden Katzenmutter, die ich vorher gar nicht gesehen hatte, veranlasste, sofort das Weite zu suchen. Komischerweise ohne ihren Nachwuchs zu warnen.

Anstatt weiter zu beobachten, habe ich in meinem damaligen Übermut etwas gemacht, war mir heute fern liegen würde. Mit einem kurzen Sprint näherte ich mich schnell der überhängenden Buche, dies mit dem Ziel, den Jungtieren den Rückweg abzuschneiden. Das näher am Stamm spielende Kätzchen hat mich sofort entdeckt und konnte sich noch rechthzeitig in Sicherheit bringen. Nicht aber das andere. Sich seiner dummen Lage bewusst, zog es sich laut fauchend immer weiter dem Ast entlang, bis es nur noch auf einem zittrigen Stück hängen blieb.

Und dann habe ich mich wahrhaftig dazu verleiten lassen, auch auf den Ast zu klettern. Das hätte ich aber lieber sein lassen sollen, denn die Strafe folgte auf dem Fuss. Mit einem lauten Knall brach der Ast ab und Katze und Mensch plumpsten hoch aufspritzend ins kühle Nass.

Als ich pustend und Wasser speiend wieder auftauchte, konnte ich gerade noch feststellen, wie sich die Kleine schwimmend dem Ufer näherte und gleich darauf im dichten Unterholz verschwand.

Zurück im Gasthof hat sich die ganze Bande vor Lachen den Bauch gehalten, und ich musste mir ach gar so manches anhören. Ich sah ja auch allzu komisch aus in meinen klatschnassen "Hudeln".

Es ist halt schon so: wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Aber mir war ja schliesslich auch recht geschehen.