Dienstag, 16. Dezember 2008

Mit Blindheit geschlagen

Es war glaublich das Jahr 1953. Ich war damals noch jung und beherrschte in physischer Hinsicht den Brienzergrat wie die Steinböck und Gämsen selbst. So war es nicht verwunderlich, dass ich den oberländischen Wildhütern, so es die Zeit erlaubte, beim Steinbockeinfang behilflich war.

Wir hatten eine strenge Woche hinter uns und bereiteten an einem Nachmittag eines Freitags gerade zwei dreijährige Steinböcke zum Transport mit dem Hornschlitten nach Niederried am Brienzersee hinunter vor, als uns eine Funkspruch vom Polizeiposten Interlaken erreichte. Der federführende Wildhüter Hans Fuchs, der das Gerät in der Hand hielt, machte ein ernstes Gesicht und winkte die Umstehenden heran, damit sie auch mithören konnten. Die kreischenden Laute vermittelten eine Botschaft vom Jagdinspektorat Bern, dass zwei Wildhüter sich noch gleichentags in die Gegen Axalp verschieben sollten. Am Axalperhorn seien blinde Gämsen gesehen worden, man habe bereits ein abgestürztes Tier gefunden.

Zu dieser Zeit waren die Zeitungen voll von Berichten über eine grassierende Gämsblindheit, hervorgerufen durch heimtückische Viren, die kurz vorher durch das Tierspital Bern nachgewiesen werden konnten. Arg betroffen waar der Raum Axalp-Tschingelfeld-Faulhorn, während wir gegenüber am Brienzergrat noch keine befallenen Kreaturen geortet hatten.

Eigentlich wollte ich an diesem Abend über das Wochenende zu meiner Familie nach Bern zurück. Das eben Gehörte nahm aber dermassen von mir Besitz, dass ich sofort fragte, ob ich nicht mitziehen könne. Nach kurzem Zögern wurde meinem Ansuchen stattgegeben, wohl aus Dank für die freiwillig geleisteten Dienste.

So schlittelten also die beiden beauftragten Wildhüter mit dem Hornschlitten und den zwei in spezielle Körbe verpackten Böcklein den schmalen Weg zum See hinunter. Dort auf dem "Becher"-Parkplatz warteten schon zwei freiburgische Jagdaufseher mit einem Jeep. Sie mussten die beiden Tiere noch gleichentags ins Greyerzerland bringen, wo sie glaublich am Vanil Noir ausgesetzt werden sollten.

"Becher-Anni", Wirtin im gleichnamigen Dorfgasthof, liess sich nicht lange bitten und tischte ein währschaftes Zvieri auf: Roggenbrot und Hobelkäse. Dazu natürlich auch etwas gegen den Durst. Hastig mussten wir das Dargebotene hinunterwürgen, weil der Bierfuhrmann vom "Feldschlösschen" uns mit seinem Lastwagen nach Brienz mitnehmen wollte. Dieser setzte schon ein Bein neben das andere und liess uns halblaut wissen, er möchte auch noch einmal Feierabend geniessen. So verstauten wir uns auf der Ladebrücke zwischen Harassen und Bierfässern und wurden auf der kurvenreichen Brienzerseestrasse nach Noten durchgeschüttelt. Im Schnitzerdorf plünderten wir noch ein Fresslädeli und erreichten unter lauten Stopprufen gerade noch das anfahrende letzte Postauto auf die Axalp.

Weil wir noch einen Marsch vor uns hatten, bepackten wir uns sofort und stiegen links den Weg hinauf, der zum Hinterburgsee führt. Irgendwo wollten wir dann in einer Sennhütte unterhalb des Axalperhorns oder auch noch weiter hinten gegen Dschingelfeld übernachten.

Das letzte Waldstück hatten wir gerade hinter uns gelassen, als wir die ersten Alphütten oberhalb des Bergsees erreichten. "Chrutmettli" heisst hier die Alp. Wir werweisten, ob wir hier um ein Nachtlager nachfragen sollten, als es plötzlich losging. "Wau, wau, wau" tönte es uns wütend entgegen. Wie der Blitz kam er hinter dem untersten Stall hervorgeschossen, der schwarzweisse Sennenhund. Wohl nicht ganz rassenrein, dafür aber stark und wild. Wütend umkreiste er uns, schaute zwischendurch schnell zu den Hütten empor, um zu sehen, ob der Senn nicht merke, wie gut er seine Sache mache.

Nun, wir drei waren solche Anbellereien längst gewöhnt. So zeigten wir denn auch nicht die geringste Hochachtung vor den heulenden Tiraden dieses Viehwächters. Wie länger ich das Runden drehende Tier beobachtete, umsomehr war ich überzeugt, den Kobold schon einmal gesehen zu haben. Wo, kam mir im Moment nicht in den Sinn.

Die bellende Angstmacherei hinderte uns ganz und gar nicht, zu den Ställen hinaufzusteigen. Der Vierbeiner sauste uns dabei sogar voraus, als ob er seinem Meister unser Kommen kundtun wollte.

Dieser stand bei unserem Erscheinen schon unter dem Türgreis, und nun ging mir ein Licht auf. Das war ja der Paul von Bergen aus Ringgenberg, Schwager vom "Becher-Anni", den ich natürlich samt seinem Hund von der dortigen Gaststube her kannte. Er solle ruhig sein, der Bläss, tönte es gebieterisch zwischen Bart und Tabakpfeife hervor. Und, oh Wunder, es wurde still.

Freudig begrüsste er die beiden Wildhüter, die er offenbar kannte, und fixierte mich dann von oben bis unten. Ob ich nicht der Steinbock-verrückte Dingsda aus Bern sei, wollt er wissen. "Ja, ja, der bin ich". So war der Bann gebrochen, und auch mir schüttelte er kräftig die Hand.

"Klar könnten wir auf seiner Alp übernachten, er freue sich sogar auf unsere Gesellschaft". Und schon fanden wir uns in der kleinen, niedrigen Sennenstube wieder, alsbald bewirtet mit dem Üblichen: Milch, Kaffee, Brot und Käse. Bläss hatte inzwischen seine Meinung auch geändert und behandelte uns wie Freunde. Dabei liess er sich sogar herab, seinen massigen Kopf auf meine Knie zu legen, dabei mit seinen listigen gelbbraunen Augen um einen Bissen heischend.

Bis spät in die Nacht hinein radebrechten wir über weiss der Herr was alles. Hauptthema war wohl die Gämsblindheit und die Frage, ob der Senn auch solche gesehen habe und wo. "Als ob er nichts anderes zu tun hätte als nach solchen Ausschau zu halten", meinte er. Ich selber beschäftigte mich mit Bläss, der mein Kraulen hinten den Ohren dankbar annahm und immer wieder versuchte, mein Gesicht abzulecken, ob es mir gefiel oder nicht. Möglicherweise habe ich mich zuviel mit ihm abgegeben, was am andern Tag noch Folgen haben sollte.

Kaum Morgen, zogen wir die steilen Halden empor, den ersten Flühen entgegen. Vor lauter Keuchen merkten wir gar nicht, dass da noch jemand mitkeuchte. Ja, wer wohl? Klar, Bläss war auch mit von der Partie. Alles Zurückschicken nützte nichts, hartnäckig stelle er sich immer wieder an meine Seite und erwartete wohl Fürsprache. Aber auch mit gutem Zureden liess er sich nicht bewegen, auf die Alp zurückzutrotten. "Nehmen wir ihn doch mit", der findet irgendwie seinen Heimweg schon, kam es zaghaft von meinen Lippen. Dies wohlwissend, dass er uns unter Umständen mehr hinderlich denn nützlich sein konnte. Widerwillig nickten die beiden, mein Dankeschön wohl überhörend.

So nach zwei Stunden entdeckten wir die ersten Gämsen. Ein kleines Rudel befand sich zwischen einer steilen Felswand und uns, etwa auf dreihundert Meter. "Da kommen wir noch näher heran, ohne uns zu verstecken", meinte einer der Hüter, die die Sutzen bereits vorgehängt hatten.

Beim Näherpirschen mussten wir etwas nach links ausweichen, weil uns ein alter, leerer Stall zeitweise die Sicht nahm. Aber dann war es so weit: Auf einem kleinen vorgelagerten Hügel konnten wir uns auf guter Distanz niederlassen und die Gämsen mit unseren Gläsern unter die Lupe nehmen.

Wohl fast gleichzeitig nahmen wir drei Beobachter wahr, dass mindestens ein Tier nicht mehr sehen konnte. Sein Gang war sehr unnatürlich und zögernd. Beim Vorwärtsgehen hob es immer wieder seine Vorderläufe hoch vom Boden ab, nach Hindernissen tastend. Interessant war die Feststellung, dass sich die kranke arme Kreatur ständig inmitten der andern befand. Es sah fast aus, als ob die gesunden Gämsen einen Kreis um die Hilflose bildeten, um sie zu zu führen. Die beiden Wildschützen hatten längst die Zielfernrohre montiert und visierten die Gruppe schussbereit an. Aber das war wie verhext. Immer wieder stand ein anderes Tier vor der zu Erlösenden.

So ging das über Minuten und keiner kam zum Schuss. Einer der beiden hatte dann die fragwürdige Idee, in die Luft zu schiessen. Man erhoffte sich damit, die noch Sehenden würden in alle Richtungen auseinander stieben, während die Blinde ratlos stehen bleiben würde.

Nach langem Zögern hat dann wirklich einer abgedrückt, und eine Reaktion folgte auf der Stelle. Das ganze Rudel hetzte in wilden Sätzen davon, aber zu unserem Entsetzen auch die Blinde. Weil offenbar das Echo auf den Schuss vom hinteren Felsen flür sie lauter tönte, raste sie in unsere Richtung. Das heisst, nicht ganz. In raschen Sprüngen näherte sie sich unausweichlich dem Stall, entschwand einen Moment und schon krachte es. Die Arme war in vollem Lauf in die Hütte gerast und ich hoffte, sie sei sofort tot gewesen.

Bläss, der lauernd und schnüffelnd während der ganzen Zeit neben uns gelegen hatte, ist beim Knall zwar zusammengefahren und aufgestanden, hielt sich aber noch ruhig. Aber dann entdeckte auch er das flüchtende Wild, das ihm gegen alle Regeln entgegenlief. Noch ehe wir ihn hindern konnten, sauste er in Richtung Stall los und ist dort kurz nach dem Aufprall eingetroffen. Wir hörten nur noch sein wildes Knurren. Sehen konnten wir noch nichts, weil sich das Drama hinter der Hütte abspielte. So schnell uns die Füsse trugen, spurteten auch wir an den Ort des Geschehens. Kaum um die Ecke, sahen wir die Bescherung. Bläss hatte sich tief im Hals der offenbar noch lebenden Gämse verbissen. Noch bevor wir eingreifen konnten, gab aber das gepeinigte Tier den Geist auf und wurde von den Qualen der Blindheit und seinen Folgen erlöst. Der Hund hatte aber immer noch nicht losgelassen. Darum packe ich ihn entschlossen am Nacken und riss ihn von der Verblichenen weg. Hechelnd stand er nun da und wartete wohl auf ein Gelegenheit, wieder zuzupacken.

Aber dann stieg in mir plötzlich so ein komisches Gefühl auf. Ist es nicht so, dass jeder Hund, der sich an einem Wild vergreift, von der Wildhut auf der Stelle erschossen wird? Fragend schaute ich meine Begleiter an und suchte zu erahnen, was in ihren Hirnen vorging. "Der hat ja gar nicht gejagt, das war ein blödes Zusammentreffen", stotterte ich und schielte dabei nach den beiden Gämsstutzen, ob der eine oder andere anlegen würde.

"Du mit deinem blöden Hund", knurrte einer, schulterte die tote Gämse und begann abzusteigen. Alle wussten zwar, dass es nicht mein Hund war. Meine Freundschaft zu ihm hat aber möglicherweise sein Leben gerettet. Man weiss ja nie.

Unten bei unserem vorangegangenen Nachtlager sagten wir dem Paul von Bergen nichts. Der hatte nicht einmal bemerkt, dass sein treuer Begleiter auf Abwegen war.

In Brienz hat man der toten Gämse, die vorher noch ausgeweidet worden war, den Kopf abgeschnitten und diesen auftragsgemäss an das Tierspital Bern geschickt.


















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