Sonntag, 7. Dezember 2008

Die Adlerin vom "Schneebergli"

Während vieler Jahre ist sie mir am Brienzergrat begegnet, eindrucksvoll in ihrer ausgeprägt majestätischen Grösse, unverkennbar in ihrer fliegerischen Eleganz. Manchmal war sie allein, dann wieder begleitet von einem eben flügge gewordenen Jungen, und eher selten von ihrem kleineren Ehemann. Kenner, Wildhüter und Wildbiologen sprachen von ihr als grössten Greifvogel im Berner Oberland, mit einer Flügelspannweite von weit über zwei Metern. Ihr Horst, in dem das Adlerpaar alle zwei Jahre ein einziges Junges aufzog, lag weit ennet dem Grat in der Schrattenfluh, im so genannten "Schneebergli". Ich nannte sie für mich Luise!

Ich will hier zwei Begebenheiten erzählen, die einerseits ihre Schlauheit, andererseits aber auch ihre Brutalität auszeichnen:

Noch bei Nacht war ich vom Hotel Rothorn Kulm am Brienzergrat aus gestartet, um den Sonnenaufgang inmitten von Steinböcken am Briefenhorn zu erleben. Beim anschliessenden Abstieg machte ich noch einen kleinen Umweg zur Mulde oberhalb der Rotschalp, um die lustigen Höhlenbewohner der Alpen, die Murmeltiere, zu beobachten. Im schattigen Hang setzte ich mich gegmütlich nieder und schaute interessiert dem emsigen Treiben der "Munggen" zu.

Ein vielstimmiges Pfeifen, verstärkt durch den Widerhall hinten im Kessel, liess alsbald die Luft erzittern. Wie der Blitz sausten die putzigen Kobolde ins nächste Loch, und in Sekundenschnelle war das Gebiet von den Nagern leer gefegt. Menschen waren weit und breit keine zu sehen, und die stets streunenden Bergfüche hatte ich bislang auch nicht entdeckt.

"Aha, Adler", schoss es mir durch den Kopf und schaute deshalb suchend nach oben. Sofort fiel mir dann wirklich der Adlermann auf, wie er relativ hoch über Grund in Richtung Brienzersee segelte. Bald sollte ich merken, dass dieses auffällige Tun mit einer instinktiven Taktik zu tun hatte.

Gwundrig, wie Murmeltiere trotz ihrer Ängstlichkeit sind, liessen sie bald einmal in ihrer Vertiefung umkehren, um nachzusehen, was ihr gefiederter Feind so hoch oben eigentlich wollte. Den Kopf aus dem Loch streckend, fühlten sie sich wegen der grossen Distanz recht sicher und schauten gespannt zu, wie sich der grosse Vogel vom Berg weg immer mehr von ihnen entfernte. Dabei wurde keinem der putzigen Tiere bewusst, dass die Gefahr auch von hinten kommen könnte.

Ich selber, der etwas weiter oben war, konnte das Unheil aber an einer Bewegung weiter hinten kommen sehen. Wie ein schneller Schatten sauste die Adlerin den Felsen entlang hinunter, fing sich knapp oberhalb der Mulde auf und glitt nur etwa einen Meter über dem Boden der Kolonie zu.

Das alles ging nur einige Sekunden, und schon zappelte ein bedauernswertes Murmeli in ihren Fängen, gepackt am Nacken.

Geschickt den Aufwind nutzend, zog die gewandte Jägerin in einem eleganten Bogen hinauf zum Grat und verschwand alsbald dahinter, sicher in Richtung "Schneebergli".

Die Zusammenarbeit dieser herrlichen Vögel, wenn man das so sagen will, beschäftig mich noch heute in stiller Bewunderung.


Es mag gut ein halbes Dutzend Jahre früher gewesen sein; Wildhüter Johann Studer aus Niederried am Brienzersee und ich hatten die Nacht im Heu der unteren Weissenfluh-Hütte verbracht und waren schon sehr früh unterwegs hinauf in die Schrunsen zwischen Augstmatthorn und Suggiturm. Es war anfangs Juni, also Setzzeit beim Steinwild. Viele Jungen würden dieser Tage das Licht der Welt erblicken.

Sehr vorsichtig, immer weit vorausblickend, pirschten wir uns lautlos unterhalb der Felsen entlang in das stark abfallende, kupierte Gebiet. Es lag uns zwar ganz und gar nicht daran, die "Kindsstubete" zu stören und Unruhe rund um die eventuell noch gebärenden Steingeissen zu verbreiten. Jeden Runsenkamm erklommen wir auf allen Vieren, um nicht plötzlich in ganzer Grösse ins Blickfeld zu kommen. Langsam streckten wir unsere Köpfe über die Grasnarben und spiegelten hinauf zu einigen Müttern mit ihren frisch gesetzten Kitzen. Obschon erst ein oder zwei Tage alt, waren diese schon ganz sicher auf ihren im Verhältnis zum kleinen Körper viel zu langen Beinen, versuchten sogar Bocksprünge.

Unverhofft wurden aber unsere Blicke wegen einer strampelnden Bewegung leicht nach rechts unten gerichtet. Dort lag nämlich in einer kleinen Mulde knapp oberhalb einer zerzausten Legföhre eine Steingeiss in ihren Wehen. Das heisst, die Geburt war schon eingeleitet, die beiden Vorderläufchen des Jungtieres bereits ausgetreten, und in rascher Folge erschien dann auch das Köpfchen.

Ich war dermassen fasziniert vom Geschehen, dass ich nicht mehr bemerkte, was sich rundherum sonst noch so alles tat. Der routinierte Wildhüter hatte aber inzwischen etwas ganz Wesentliches entdeckt, und stiess mich sanft mit dem Ellbogen in die Seite. Mit dem Kopf machte er gleichzeitig eine langsame Bewegung nach links oben, und ich folgte interessiert seinem Blick.

Und dann sah ich es auch. Was dort wie eine "Walliser-Hutte" aussah, war die auf einem Stein aufgepflockte Adlerin vom "Schneebergli". Bewegungslos sass sie dort, und nur ihr Kopf wandte sich wiederholt rasch von links nach rechts. Natürlich hatte sie uns längst im Blickfeld und so hielt sie abwechselnd uns und die werdende Mutter im Auge. Obschon sie keine fünfzig Meter von unserem Liegeort entfernt war, strich sie nicht ab. Warum sollte sie auch, angesichts einer möglichen leichten Mahlzeit.

Geburten gehen bei dem Freiwild da oben sehr rasch vor sich. Als sich jedenfalls mein Blick wieder einmal nach unten senkte, war das Kitz schon da und hing eingepackt in der Geburtshaut nur noch an der Nabelschnur. Seine Mutter lag noch etwas benommen und tief schnaufend der Länge nach da und hatte noch nicht die Kraft, das Junge aus der Haut zu lösen und abzulecken.

Eine schlimme Ahnung stieg in mir auf, und ich überlegte gerade, wie ich den riesigen Raubvogel verscheuchen könnte. Aber oh weh, es war schon zu spät! Luise hätte sich wohl auch nicht mehr ablenken lassen. In Sekundenschnelle war sie über der Geburtsstätte, und schon hing das Neugeborene in ihren Fängen. Einfach so. Die frisch gebackene Mutter konnte sich ja noch nicht wehren. Und auch mein Aufspringen verhinderte das Unglück nicht mehr.

Wie ein belasteter Segelflieger gondelte die Räuberin bereits vom Hang weg und liess die Beute weiter unten zu allem Überfluss noch fallen, holte sie aber in einer engen Spirale wieder, unseren Blicken bereits entschwunden.

"Das ist eben Natur", meinte der Wildhüter nur dazu, und ich war wütend!







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