Es war zu einer Zeit, als man hierzulande kaum von Tollwut sprach, irgendwann in den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Der Leser muss das wissen, damit er in der heutigen Euphorie nicht unbedingt an diese Seuche denkt.
Zusammen mit Hochwildjägern waqr ich damals bei meinem Freund Fred Anderegg in dessen Gastwirtschaft auf der Planalp oberhalb Brienz einquartiert. In der zweiten Hälfte September mag es gewesen sein. Aber keine Angst, ich will hier nicht über die Jagd an und für sich berichten, sondern über eine Begebenheit, die in ihrer Art als sonderlich gelten kann.
An Schontagen, oder wenn ich sonst keine Lust hatte, mit den Weidmännern zu ziehen, begab ich mich oft allein Einein die Wälder östlich der Planalp. Dort wand sich ein wunderschöner kleiner Waldweg, der fast ebenwegs durch den teilweise gelichteten Baumbestand führte. So auf halbem Weg hatte es mir eine uralte Eiche angetan, unter der ich über Stunden verweilte, den mannigfaltigen Vogelstimmen lauschend, gelegentlich auch ein Nickerchen machend, oder wo ich nur still vor mich hinträumte.
Eines Tages, an einem Vormittag, riss mich ein hastiges Rascheln in den näheren Büschen aus meiner Gedankenwelt. Gespannt richtete sich meine Aufmerksamkeit dorthin, jederzeit eine Überraschung erwartend. Kurz vor dem Austreten streckte der Urheber meines Interesses seinen listigen rotbraunen Kopf zwischen den Blättern hervor und musterte für Sekunden das Umfeld. Der weisse Ansatz am Unerkiefer und Hals glänzte dabei in einem Sonnenstrahl, der durch die Baumkronen just die Stelle beleuchtete, wo Reineke kurz darauf den Waldweg betrat.
Hastig beschnupperte der Fuchs einige Stellen, drehte sich dann ein paar Mal um sich selbst und machte, oh staune, sein Geschäft mitten ins Weglein. Weil meinem Sitzort zugekehrt, schaute er mich dabei voll an und tat, als ob es mich nicht gäbe. Das kann doch nicht wahr sein, jagten sich meine Gedanken und ich konnte mir keinen Reim auf dieses sonderbare Gebaren machen. Der muss mich doch längst gesehen oder gerochen haben, der komische Jäger. Nichts, aber auch gar nichts, liess er sich anmerken oder gar an Flucht denken.
Nachdem er seine Losung noch kurz abgerochen hatte, schnürte er einige Meter von mir weg, und legte sich gelassen nieder. Dann setzte er sich wieder und kratzte sich mit seinen Hinterpfoten und bearbeitete sämtliche Stellen, die er damit erreichen konnte. Zwischendurch stand er wieder einmal auf, schüttelte sich heftig und setzte die Kratzerei alsbald wieder fort.
Inzwischen hatte ich Gelegenheit, den "Kratzjoggi" näher unter die Lupe zu nehmen. Anhand der zarten Glieder und des schmalen Kopfes musste es sich um eine Füchsin, eine Fähe, handeln. Aber war die mager! Richtig elend, struppig und verlaust sah die Pelzträgerin aus.
Noch während ich an Läuse oder Zecken dachte, kam mir ein Gespräch zwischen zwei Jägern in den Sinn. Sie redeten von "rüdigen" Füchsen oberhalb Brienz. Da hatte ich's also. Meine Geplagte war von der Räude befallen, Parasiten, die die Haut ganz spröd machen und Juckreiz hervorrufen. Es kann sein, dass die befallenen Tiere jede Lust auf die Umwelt verlieren, was einigermassen erklären würde, warum mein Füchslein so zutraulich war.
Weil ich nicht gewusst habe, ob ich zum Mittagessen zurückkehren wollte, hatte man mir von der Wirtschaft ein Einmachglas mit Wurstsalat und einen halben Laib Brot mitgegeben, dazu zwei Flaschen Bier. Aus diesem Grunde kam mir wohl auch der Gedanke, dem Rotpelz zuerst einen Krummen Brot, dann auch etwas Wurst zuzuwerfen. Gedacht, getan. Aber schon das erste in der Luft befindliche Stücklein liess die Füchsin in wilder Panik bergab jagen. Nun, das begriff ich einigermassen. Sie wähnte sich offenbar beworfen, und wer mag das schon.
"Die hast du gesehen, die kommt nicht wieder", sagte ich mir etwas enttäuscht. Dann löffelte ich lustlos im Einmachgals herum und saugte etwas belebter an der Flasche.
Hoch über den Wipfeln drehte ein Mäusebussard seine Runden, den ich zwar nicht sehen konnte, aber sein bekanntes "Jiiüüüü" liess mich ihn als solchen erkennen. Etwas weiter unen krähten dann Eichelhäher lauthals los. Ein sicheres Zeichen, dass sich die Fähe im Moment an dieser Stelle aufhielt.
Auf dem Talboden, auf den Militärflugplätzen Meiringen-Unterbach und Bönigen, hatten die Piloten unterdessen ihren Betrieb aufgenommen, und das Getöse der Düsenjäger übertönte nun jeglichen Vogelsang. So nach einer weiteren Stunde hatte ich genug davon, stand räkelnd auf und wollte gerade den Rucksack aufnehmen, als sie wieder da war. Keine fünfzehn Schritte entfernt beäugte sie mich. Dabei hing ihr die rosa Zunge seitlich aus der langen Schnauze, und ich glaubte ein leichtes Glitzern in ihren Augen zu erblicken. Weil ich nun aufrecht stand, nahm sie mich offenbar für diesmal bewusst wahr. Auf jeden Fall vergass sie, ihre Haut und das verfilzte Fell zu malträtieren.
Da ich nun einmal beschlossen hatte, wieder die Planalp aufzusuchen, machte ich einige vorsichtige Schritte in ihre Richtung. Fast auf Stubenlänge liess mich der Rotrock heran, verdrückte sich dann aber in langen Sätzen, diesmal bergauf.
Dann kam mir unverhofft der nicht gegessene Wurstsalat in den Sinn. Auspacken, das Fleisch grob von der Sauce säubern und auf das Weglein leeren, war bald einmal vollzogen. Glücklich über meine Idee betrachtete ich für eine Weile das Fleischhäufchen und hoffte sehr, die Baummarder würden den Leckerbissen nicht vor meiner Neuentdeckung finden.
Aufgelöst schlenderte ich ins heimelige Wirtschäftli zurück, das ich bereits nach einer Stunde erreichte. Die Jäger vertrieben sich, wie jeden Tag, die Zeit mit Jassen. Was auch sonst! Der Aufbruch zum Halali erfolgte ja erst am Spätnachmittag, bis dann hatten die Gämsen vor ihnen Ruhe. Sie wollten dann auch wissen, wo in der Nähe ich solche gesehen hätte. Keinen Schwanz, log ich. Übrigens hätte ich den Wald gar nie verlassen, somit sei mir der Blick nach oben auch verwehrt gewesen. In Tat und Wahrheit hatte ich bei meiner Rückkehr mindestans ein halbes Dutzend knapp oberhalb Planalp äsen gesehen.
Wohlweislich verschwieg ich auch die Begegnung mit der Fähe. Die Jagd auf Haarraubwild und vor allem auf räudige Füchse war ja schliesslich auch offen. Der eine oder andere hätte sich noch vor der Gämspirsch die Zeit genommen, eine so zahme Füchsin vor den Lauf zu bekommen. Da hätte auch keine Intervention meinerseits das Unheil abwenden können. Im Nachhinein kann man sich zwar fragen, ob mein Stillschweigen der Kranken wirklich nützlich war, denn in den meisten Fällen gehen die befallenen Tiere über kurz oder lang ein. Aber damals dachte ich wohl, Freunde verrät man nicht!
Auch an diesem Abend zog ich nicht mit den Flintenträgern. Am nächsten Morgen auch nicht. Was für eine Ausrede ich dabei vorbrachte, weiss ich nicht mehr. Sollten sie doch die Beute selber heimtragen, das hatte ich schliesslich schon zur Genüge getan. Bei Fred Anderegg brachte ich den Wunsch vor, mir wieder etwas Essbares einzupacken, am liebsten Bratenresten vom Vortag. Er solle nicht sparen, mein Ausflug würde anstrengend sein, und der Magen müsse dementsprechend versorgt werden. Ich konnte ja auch dem Wirt nicht sagen, dass ich eine Mahlzeit für zwei brauchte. Der war ja selber auch Jäger.
Diesmal pressierte es mir, die Eiche zu erreichen. Vor lauter Eifer und freudiger Erwartung wohl in der Hälfte der gewohnten Zeit. Auch habe ich unterwegs nicht nach Vogelnestern gespäht, nicht auf Laute gelauscht. Das hätte auch nicht viel genützt; die Düsenjäger heulten bereits wieder los.
Aha, der Wurstsalat war weg. Aber nun stieg die Ungewissheit in mir hoch, wer ihn wohl als Erster gefunden hatte. Die Marder, andere Füchse oder gar einer der Dachse, deren Bau ich nicht viel weiter unten in Sitschenen kannte.
Wie gewohnt lagerte ich neben dem eindrucksvollen Laubträger. Lange, viel zu lange, dünkte mich die Warterei. Obwohl ich eigentlich nicht viel Hoffnung hatte, kurvten meine Gedanken ausschliesslich um das magere Geschöpf, und ich plangte richtig, sie möge erscheinen. Wenn sich die Flieger für einmal ins Wallis oder in die Innerschweiz verzogen hatten, lauschte ich gespannt auf ein Rascheln, das für mich wie Musik in den Ohren geklungen hätte.
Meine Augen wanderten in die Runde, trainiert auch die kleinsten Bewegungen aufzunehmen. Bei einem grossen Stein, aus einem früheren Felssturz stammend und vollständig mit Moos bewachsen, blieben sie hängen. Der rote Fleck im schattigen Grün war unübersehbar. Das war sie, die lang erwartete pelzige Sehnsucht, von der sich meine Gedanken nun schon seit Stunden nicht mehr lösen konnten. Unbeweglich, den Blick starr auf mich gerichtet, sass die Füchsin da. Wie lange schon, wusste ich nicht. Der kleine Felsbrocken stand etwa zehn Meter oberhalb des Wegleins und vor mir aus etwas weiter hinten. Meine frisch gewonnene Freundin deshalb weiter entfernt als gestern. Mit meinem Spezialfeldstecher konnte ich sie aber auf Armlänge heranholen und genau betrachten. Einmal mehr fiel mir das ungepflegte Fell auf, das glanzlos und karg an ihrem dünnen Körper hing.
Ihr entgegensteigen mochte ich nicht; sie würde sicher abhauen. So schlenderte ich gelassen dem Pfad entlang bis unterhalb des grünen Steins, sie dabei immer im Auge behaltend. So kam ich ihr doch ziemlich nahe und meine Freude stieg ins Unermessliche, als die Holde ihre Sitzhaftigkeit weiter bewies und sich mir weiterhin wie eine Statue präsentierte. Keinen Wank machte sie; höchstens die spitzen Öhrchen spielten, um ja jededn verdächtigen Laut zu erhaschen.
Was nun? Ich durfte ja nicht erwarten, dass sie mir entgegen laufe. Aber der Braten, klar, der Braten! Mehr als die Hälfte habe ich etwas zerschnitten und mitten in ihr Blickfeld gelegt. Nach getaner Arbeit und vor dem Rückzug noch ein kurzer Blick nach oben. Ja, sie war noch da.
Zurück bei der Eiche machte ich es mir gemütlich und genehmigte mir etwas aus der Wärmeflasche. Dabei stellte ich erst zu dieser Zeit fest, dass es "Kaffee fertig" war. Der Schalk Fred hatte mir nichts davon gesagt. Der kutze Griff nach dem Feldstecher und scharfes Einstellen war im Nu getan und schon hatte ich die Gute in der Linse. Gut zu sehen, die roch etwas. Gierig sog sie die Luft aus Richtung Braten ein und machte dabei um die Nasenspitze Bewegungen wie die Kaninchen. "Geh doch, nur los", schrie es in meinem Innern, und die Spannung stieg dermassen, dass es fast schmerzhaft wirkte.
Und dann geschah das Erhoffte wirklich. Mit einem eleganten Sprung landete das Tier im saftigen Moos und erreichte schnell und schnurgerade den Ort, woher der verlockende Durft ihre Nase kitzelte. Kurzes Abriechen und schon schnappte sie nach einem Fleischstück, um sogleich damit in die Büsche zu verschwinden. Offenbar wollte sie nicht, dass ich ihr auch noch beim Fressen zusah. Aber schon nach kurzer Zeit erschien sie wieder, brachte ein weiteres Stück intus und verzog sich wiederum. Das gleiche Spielchen wiederholte sich, bis mein halbes Mittagessen, das ja schliesslich auf für sie gedacht war, "rübis und stübis" in ihrem Magen verschwunden war.
Langsam trottete die Satte von mir weg und verschwand alsbald aus meinem Blickfeld. Ich spürte, dass sie nun nicht mehr zurückkommen werde in der nächsten Zeit. Als ich mir schon einen Plan für den morgigen Tag zurechtlegen wollte, kam mir in den Sinn, dass dies ja mein zweitletzter Ferientag war.
So schaute ich noch einmal zurück, ohne Hoffnung auf ihr Erscheinen, und rief dann halblaut ein zaghaftes Adieu in die Richtung, wo ich ihre Rute um die Wegbiegung habe verschwinden sehen.
Im darauffolgenden Winter sind die Brienzer Füchse mit einem Grossaufgebot heftig bejagt worden. Beim Jagdinspektorat war man überzeugt, dass nur eine rigorose Dezimierung die Räude, die sich sofort auf die Jungtiere überträgt, ausmerzen können.
Ein Stadtberner Jäger, ein gebürtiger Brienzer, hat mir anschliessend erzählt, er sei dabei gewesen, als sie in einer Nacht auf Schnee und dank ausgebreiteten Schlachtresten zweiundzwanz "erwischt" hätten.
Ob meine Freundin auch bei den Leidtragenden war, weiss ich nicht.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen