Es war in den Sechzigerjahren des vorderen Jahrhunderts. Eine Zeit, während der ich den grössten Teil meiner Ferien den Steinböcken und anderem Alpenwild widmete. Meine Aufenthalte verbrachte ich oft in den beiden Weissenfluh-Hütten, unterhalb des Brienzergrates in der Nähe des Suggiturms. Wenn ich mich an gewissen Tagen an irgend einem Ereignis besonders begeistern konnte, blieb ich einige Tage oben und kehrte erst an die Gestaden des Brienzersees zurück, wenn der Vorrat zur Neige ging.
So ein Ereignis bahnte sich an, als ich Tante Anna, wie ich sie nannte, erstmals so richtig gewahr wurde. Sie gehörte zu einem Rudel von weiblichem Steinwild, das ihre Jungen alljährlich in der Gegend Augstmatthorn, Suggiturm und Weissenfluh aufzog. Sie sonderte sich immer ein wenig von den andern ab, führte auch kein Kitz und gab sich weniger scheu als ihre Artgenossinnen. In diesem Zusammenhang muss man wissen, dass die Steingeissen im nicht von Touristen erschlossenen Gebiet viel eher zur Flucht neigen als ihre Männer, die Steinböcke, die im Sommer eigene Rudel bilden und den Menschen eher gelassen an sich zukommen lassen.
Bei meinem jeweiligen Erscheinen bemühte sie sich viel später als die andern abseits und setzte sich erst ab, wenn ich so an die drei bis vier Stubenlängen an sie heran gekommen war. Das veranlasste mich bald einmal, mit ihr zu sprechen. Sie sollte sich an meine Stimme gewöhnen, musste erfahren, dass sie beim Ertönen dieser Laute eher belohnt denn bestraft wurde. Dabei bemühte ich mich, Wörter mit mehreren A zu gebrauchen, was dann zu der bekannten Tante Anna führte. Ihr gegenüber verfeinerte ich die Anrede sogar mit Tanta Anna.
Manche mögen mich für blöd halten, aber solche Gespräche habe ich mit ihr in grösserer oder kleinerer Distanz stundenlang, und das während Tagen, geführt. Dabei ging ich langsam zur Phase 2 über, indem ich an günstigen Orten, aber meistens dort, wo sie mich letztmals gesehen hatte, Tabak und Salz ausstreute. Sobald ich mich dann zurückzog, suchte sie, angelockt durch die unwiderstehliche Verführung, die Leckerbissen auf, um sie rasch und vor den andern einzuverleiben.
Nach vielen Bemühungen kam die Zeit, wo sie meine Stimme in Zusammenhang mit Schleckereien brachte. Hatte sie am Anfang selten aufgehört zu äsen, wenn ich auftrauchte und zu plappern begann, hob sie nun plötzlich ihr Haupt, wenn sich meine Tonart in ihren sensiblen Lauschern verfing. Ja, es geschah später sogar, dass sie einige Schritte gegen mich machte, mir sage und schreibe entgegenkam (siehe Bild).
Auch im Spätherbst, als ich noch einmal wegen ihr ins Gebiet kam, änderte sich ihr Gehabe nicht. Sie hatte mich offensichtlich während der längeren Abwesenheit nicht vergessen. Dabei muss gesagt werden, dass sie sicher nie mich selber als Ganzes wahrnahm. Lediglich meine Stimme bildete das Bindeglied zwischen uns beiden, gepaart natürlich und wohl auch ausschlaggebend mit den Lockemitteln.
Für mich war der nachfolgende Winter viel zu lang und ich konnte es fast nicht erwarten, nach der Frühjahrs-Schneeschmelze hinauf zur Weissenfluh zu pilgern. Wegen der Meereshöhe hatte es an verschiedenen Stellen noch Schnee, und ich kam an diesen Stellen nur mühsam voran.
Es war gegen Abend am zweiten Tag nach meiner Ankunft, der mit viel Regen und Nebel meine Pirschpläne etwas gedämpt hatte, als ich sie fast oben am Grat neben dem Niederriedweg ausmachen konnte. Mit klopfendem Herzen stieg ich sofort hinauf, um auf Rufweite meine freundlichen Begrüssungsworte in Gottes freier Natur zu rufen. Tanta Anna, ich bin daaaaaaa!
Was ich nicht zu hoffen gewagt hatte, geschah. Obschon sie mich als Gesichtstier schon lange gesehen haben muss, hob sie erst bei meinen Worten zuckartig den Kopf und machte, oh Freude, einige Schritte in die Rufrichtung.
Ich glaube, ich habe an diesem Freudentag ein ganzes Päcklein Sämi-Tabak verstreut. So grenzenlos war meine Begeisterung. Zufrieden und dem kommenden Tag entgegenplangend, bin ich sofort wieder zur Weissenfluh abgestiegen.
Noch vor Sonnenaufgang bin ich am andern Tag auf dem Grat gestanden, nachdem ich eine vor Aufregung fast schlaflose Nacht hinter mich gebracht hatte. Als sich mir endlich der Gesichtskreis gegen den Suggiturm öffnete, sah ich das Steingeissrudel sofort in der südlichen Flanke. Tante Anna war natürlich auch dabei, und bei näherer Betrachtung fiel mir auf, dass sie nicht trächtig war. Während die andern ihre runden Bäuche an den ersten Sonnenstrahlen wärmten, stand sie schlank und rank da. Im Vorjahr dachte ich noch, ihr Junges sei den Adlern zum Opfer gefallen oder abgestürzt. Ich war nun überzeugt, sie sei steril. Vom Alter her wäre sie noch absolut fortpflanzungsfähig gewesen. Erstmals kam mir der Gedanke, dass sie wohl wegen ihrer Kinderlosigkeit etwas zutraulicher war als ihre Schwestern, die aus Angst um die Kleinen in ständiger Fluchtbereitschaft standen.
Ich will nun erzählen, was sich im darauffolgenden Herbst ergeben hat, als ich eine Gruppe von interessierten Steinbockfreunden ins Augstmatthorn-Gebiet führte.
Die aufgestellte Runde hatte im "Bären" Habkern übernachtet. Frühmorgens liessen wir uns auf die Lombachalp führen, um möglichst rasch von Norden her auf den Grat zu steigen. Oben, als der tiefliegende, grüne Brienzersee und die gegenüberliegende Alpenwelt in ihrer vollen Pracht erschienen, liess ich die Runde absitzen. Ich selber machte mich auf die Suche nach dem Rudel mit Tante Anna. Fast entmutigt wollte ich schon zurückkehren, als ich mich doch noch um eine weitere Wegbiegung nach unten begab. Glück muss man haben! Nicht weit weg von der oberen Weissenfluh-Hütte hatten die Steingeissen, inzwischen um einige Kitze angewachsen, Einstand genommen. Einschliesslich meiner Freundnin, die etwas weiter oben auf Beobachtungsposten verweilte.
Schalkhaft lächelnd stieg ich wieder hinauf und malte mir aus, was flür eine verblüffende Schau ich den Bergbeflissenen auftischen konnte. Oben angelangt, erklärte ich in etwas bluffender Weise, es gäbe da unten eine Steingeiss, die mich kennen würde. Dabei verschwieg ich natürlich wegen des Effekts all die Mühsal, die ich deswegen schon aufgebracht hatte.
Die ungläubigen Gesichter veranlassten mich, nun einen Plan auszuhecken, um die Probe aufs Exempel zu statuieren. Bei der von hier aus zu sehenden Wegbiegung oberhalb Weissenfluh sollten sie alle sprechen, nur ich würde schweigen. Sie sollten aber auch nicht zu laut sein, die Tiere würden sonst ihre Nachzucht alsbald in Sicherheit bringen. Auf mein Zeichen sollten sie dann alle still sein.
So ist es dann auch geschehen. Sobald wir das Rudel gut sichtbar vor uns hatten und uns eine befohlene Stille umgab, ertönte nun mein freudiges "Tanta Annaaa". Und siehe da, sie liess mich nicht im Stich!
Beim Abstieg nach Niederried hinunter war das noch lange ein Gaudi. Viele betrachteten mich als Mensch gewordener Steinbock, der zu seinen Brüdern und Schwestern gefunden hatte.
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