Samstag, 6. Dezember 2008

JOSEF, der Steinbock

Dank einer Notiz weiss ich, dass sich Josef, wie ich ihn bald einmal nannte, am 15. September 1970 estmals im Rund meines guten Feldstechers tummelte. Nach einem sehr farbenprächtigen Sonnenuntergang stand ich damals mutterseelenallein auf dem Gipfel des Brienzer-Rothorns und spiegelte gegen den Eisee hinunter, wo ein grösseres Rudel von älteren Steinböcken mit zum Teil mächtigen Hörnern äste. Etwas abgesondert stand da noch ein starker, wunderschöner Bock, der meine Aufmerksamkeit bald einmal für sich allein in Anspruch nahm. Sein nobles Gehabe, seine langsamen fürstlichen Bewegungen, die Art, wie er seine Umgebung beherrschte, verriet die unbrechbare Vorherrschaft, die er in dieser Gruppe innehatte.

Du herrliches Geschöpf, morgen früh werde ich versuchen, deine Nähe zu erobern, um in Lichtbildern deine Schönheit zu verkünden. So etwa jubelte es in mir drinnen, und ich schlenderte gut gelaunt den Bergweg hinunter zum Hotel Rothorn Kulm. Dort wurde der damalige Hotelier Edwin Meier von meiner Aufgestelltheit ebenfalls angesteckt, und wir fachsimpelten bis spät in die Nacht hinein, lobten die Schöpfung und vor allem Josef, der daraus entstanden ist.

Der junge Tag kündete sich noch nicht einmal an, als ich schon unterwegs war, kamerabeladen und gut versorgt aus der Hotelküche. In weiser Voraussicht hatte ich sogar den Schlafsack und das Kochgeschirr mitgenommen, weil ich nie wusste, ob ich gleichentags wieder zurückkehren würde. Solches Tun war man von mir gewohnt, und es würde sich demnach auch niemand Sorge machen, wenn ich auf die Nacht hin wegblieb.

Bald einmal aber setzte ich mich erstmals hin. Es war ja auch sinnlos, in der Nacht herumzustolpern, denn noch immer umfing mich ein unaufgehelltes Dunkel. Bis anhin war ich eher tastend denn zügig vorangekommen und musste mir nun gezwungenermassen Musse nehmen, in fieberhafter Erwartung auszuharren und den kommenden Tag herbei zu sehnen. Ob sie noch da sind? Ja, ja, sicher. Aus Erfahrung wusste ich, dass das Steinwild während der Nacht den Standort kaum gross wechselt.

Dann war es so weit. Zuerst die umliegenden Gipfel, dann, hinunterschleichend, erhellten sich nach und nach die tieferen Gefilde. Und schon bald einmal konnte ich, zuerst schemenhaft, die Gehörnten ausmachen. Oh du meine Güte, Herz freu dich! Josef stand keine fünfzig Meter unterhalb von mir, die andern hundert und mehr.

Unsere Blicke trafen sich erstmals bewusst. Meine sicher begeistert, seine doch schon eher etwas misstrauisch. Langsam hob er nun den Kopf an, seine Nüstern blähten sich leicht, und offensichtlich versuchte er Witterung von mir aufzunehmen. Aber wie jeden Morgen war Aufwind, und er hatte damit wohl seine liebe Mühe. Zwar hatte ich keinen Augenblick den Eindruck, es hätte ihm etwas ausgemacht, die menschliche Ausdünstung zu orten.

Beruhigend fing ich an zu sprechen und faselte wohl das dümmste Zeug. Das war ja auch nicht wichtig, verstehen konnte er mich so oder so nicht. Aber an meine Stimme sollte er sich gewöhnen. Das war gewinnbringender als ein hastiges, unfachmännisches Anschleichen, das ihn nur verwirrt und möglicherweise zur Flucht veranlasst hätte. Zwischendurch auch einmal singend und damit den Tag lobend, näherte ich mich aufrecht und ganz sachte, Schrit für Schritt, die Kamera bereits gezückt.

Seine Majestät liess mich dabei nicht aus den Augen. Nur einmal schaute er etwas suchend weg, sicher einen Fluchtweg ausmachend, sollte ich etwas Ungutes im Schilde führen. Nein, nein, Braver, verkündete ich dem Prachtstier und versprach ihm dabei ewige Freundschaft. Immer grösser erschien er nun in meinem Sucher, und so auf die zwanzig Schritte konnte ich erstmals klicken. Näher liess er mich nun aber doch nicht mehr heran, aber ich war ja auch so mehr als zufrieden. Fast verachtend, so wenigstens schien es mir, wandte er sich stolz ab und begab sich wippenden Ganges zu den Seinen, um weiter zu äsen.

Inzwischen wärmten die Sonnenstrahlen die dampfende Flora mehr und mehr. Ein Zeichen für mein Rudel, sich in Richtung Osten aus dem Staub zu machen, um dort in den kühleren, schattigen Felsen den Tag zu verbringen.

Ich war überzeugt, die Tiere würden sich gegen Abend wieder hier einfinden, und war gewillt, auch anwesend zu sein. Dort, wo mich Josef zum letzten Mal gesehen hatte, legte ich etwas Salz und Tabak hin. Wohlwissend, was für eine Begeisterung das bei ihm auslösen würde, wnn es ihm nicht andere vorher wegschnappten.

Links hinter einer Kuppe lag der Eisee mit einem kleinen Wirtschäftchen. Also, nichts wie hin. Schon von weitem sah ich ein kleines Räuchlein kerzengerade dem Kamin entweichen. Da war also jemand, und die Warterei konnte gar nicht so übel sein. Ich hätte zwar auch ins Hotel zurückgehen können, aber hier gefiel es mir nun einmal besser. 

Ein etwas mürrischer Wirt staunte über mein frühes Erscheinen und wollte mir nicht sagen, was ihm über die Leber gekrochen war. Kaffee, wünschte ich. "Mit was?", wollte er wissen. "Aha, ja nu, halt mit Bätzi". Wortlos stellte er dann das Besellte hin und ungefragt noch ein Stück Brot und selbstgemachtem Käse. Er müsse jetzt zu den Meischli (oberländisch für Rinder) schauen, aber seine Tochter würde bald auch erscheinen, wenn ich nocht etwas wolle. Als sie dann kam, bestellte ich wirklich noch etwas. Schliesslich hatte ich ja den ganzen Tag Zeit und war froh, dass die hübsche Maid, Kathrin hiess sie übrigens, bessere Laune versprühte als ihr Altherr.

Auch einige Gämsjäger verkürzten mir das Warten, und so verging die Zeit im Nu. Die Sonne neigte sich schon tief gegen Westen, als ich mich endlich wieder zum Aufbruch klemmte, um den bekannten Standort aufzusuchen. Die Jäger verzogen sich in gegenseitiger Richtung ins Obwaldnische.

Mein Rudel war schon unterwegs zu ihrem bevorzugten Weideplatz. Allen voran in seiner gewohnten Manier, unbeirrbar und zielsicher, mein neuer Freund, den ich inzwischen aus Hunderten heraus erkannt hätte. Meine Freude war dann auch unermesslich, als er als erster bei meinem verstreuten Tabak und dem Salz anlangte und die Leckerbissen hastig aufnahm. Als er herumsuchend nichts mehr fand, würdigte er mich sogar eines Blickes, als ober er sich bedanken wollte.

Mein Entschluss war bald einmal gefasst. Ich würde die Nacht hier inmitten dieser Geschöpfe verbringen. Dabei rechnete ich mir aus, wo Josef bei seiner nächtlichen Nahrungsaufnahme am ersten vorbeigehen würde. Also begab ich mich an die südliche, steile Flanke des Rothorns. Irgendwo, wo es etwas eben war, legte ich den Schlafsack aus, kramte den Kocher aus dem Rucksack und braute mir ein Süppchen. Dabei gab ich mir gar keine Mühe, mein Dasein möglichst diskret zu gestalten. Der Bergkönig und seine Kumpane sollten sich an mich gewöhnen, auch in Verbindung mit den Gerüchen der menschlichen Nahrung.

Längst war es nun Nacht geworden, und ich steckte bereits im Schlafsack, bestaunte den Himmel mit seiner Sternenvielfalt und war rundum glücklich. Der Schlaf wollte mich noch lange nicht übermannen, und ich lauschte angestrengt in das stille Dunkel hinein. Hören konnte ich aber nichts.

Aber dann, was war das für ein Geruch? Ganz gut wahrnehmbar erfasste meine empfindliche Nase ein Fludium, wie es Ziegen und Schafe verbreiten. Zumindest Josef musste also ganz in der Nähe sein. Sicher suchte er nach ganz besonderen Häppchen, die er in meiner Umgebung vermutete. Möglicherweise stach ihm auch der Geruch von Tabak, der meinem Rucksack entströmte, in den Riecher.

Dann konnte ich im Sternenlicht auch seine schnittige Figur erkennen, lediglich einen Katzensprung entfernt. Er frass nicht, schaute unablässig in meine Richtung und überlegte wohl, ob er sich noch näher heran getrauen sollte.

Irgendwas musste ihn aber gestört haben. In ein paar raschen Gängen bewegte er sich unverhofft bergan und entschwand im Dunkel der Nacht. Insgeheim hoffte ich aber, dass ihn der Gwunder so richtig gepackt hatte und er mich noch mit einem weiteren Besuch beehren würde.

Ich musste wohl eingeschlafen sein, sicher aber nicht tief. Ein einschnaufendes Schnpf-schnpf riss mich wieder in die Gegenwart zurück. Das durfte doch nicht wahr sein! Josef stand direkt neben mir und beschnupperte den Unterteil meines Schlafsackes. Eine etwas hastige Bewegung meinerseits liess ihn aber wieder etwas absetzen. Seine Konturen konnte ich jedoch weiterhin wahrnehmen und beobachtete, wie er wieder mit seiner Nahrungsaufsuche beschäftigt war.

Die Müdigkeit hat mich aber dann doch besiegt, und ich versank in einen friedlichen Schlummer. Als sich dann mein Bewusstsein wieder etwas regte, tagte es schon, und ich musste mich zuerst zurechtfinden. Das erste, was ich dann erblickte, war wirklich mein verzauberter Liebling, Josef in seiner ganzen Grösse. Keine fünf Meter stand er neben  meinem Rastplatz und ich konnte bereits die aufgehende Sonne sehen, die sich in seinen Lichtern spiegelte (siehe Bild).

Nun ganz langsam den Fotoapparat aus dem Rucksack holen, immer darauf bedacht, ihn nicht zu erschrecken. Aber er stand einfach da, drehte nur hin und wieder sein schweres Haupt. Wie ein Starmodel vor den Linsen eines Modefotografen. 

Es waren dann auch von den schönsten Steinbockaufnahmen, die ich je von diesem Alpenwild gemacht habe. Und weil es Josef betraf, behalte ich sie in besonderen Ehren.

Noch während weiteren vier Jahren habe ich meinen Bergkönig aufgesucht und ihn immer wieder gefunden, irgendwo in der Eiseegegend.

Dann kam eines Tages die betrübliche Nachricht vom Rothorn-Hotelier, der von meiner besonderen Zuneigung zu diesem Tier wusste, Josef sei sehrwahrscheinlich vom obwaldnischen Wildhüter Ruedi Rymann (Schacher-Seppli) wegen seiner ausserordentlichen Trophäe für ein Jagdmuseum erlegt worden.

Dort soll er nun vielen Besuchern die Freude bereiten, die er mir so oft angedeihen liess.








 




Keine Kommentare: