Dem Rind "Mira" gewidmet. Foto am "Tag danach", aufgenommen am 31. August 1983
Die nasskalte Witterung drang damals nicht in den kuhwarmen Stall von Fritz Bieri im Ottenbach bei Häusernmoos, als Mira an einem Spätwinterabend das Licht der Welt erblickte. Obschon von kräftigen Händen mit Stroh trockengerieben, zitterte sie am ganzen Leib, als ihr der erste Atem in die Lungen strömte. Ein paar Minuten ist sie wohl wie tot da gelegen, reckte nur hie und da die langen, hageren Beine. Als es ihr endlich gelang, das rotweiss gefleckte Köpfchen etwas anzuheben, fühlte sie langsam eine wohlige Wärme durch den jungen Körper fliessen. Gleichzeitig fing sie an, verschwommen Gestalten zu sehen. Grosse vierbeinige Wesen drängten sich Schwanz an Schwanz einer "Krüpfe" entlang, und neben ihr standen umsorgend zwei Zweibeiner.
Die Zeit verstrich. Dann aber fühlte die Neugeborene einen unbändigen Drang, sich auf ihre wackligen, im Verhältnis zum Körper zu grossen Beine zu stellen. Nach einigen untauglichen Versuchen ist das dann auch auf ungeschickte Weise gelungen. In steifer Grätsche ist sie dagestanden und wusste nicht, was sie nun mit den langen Stelzen tun sollte. Wahrscheinlich fühlte sie, dass sie umfallen würde, hätte sie versucht, einen Schritt zu tun. Später hat sie ein paar Mal die knorrigen Beine angehoben und zu gehen versucht. Aber daran hinderte sie ein ekliger Strick, den ihr von Arbeit gezeichnete Hände um den zarten Hals gelegt hatten.
Ihr war noch immer sehr hilflos zumute. Zudem rege sich in ihrem Bauch so ein komisches Gefühl, weil sie langsam von Hunger geplagt wurde. Ihre Mutter, bei der sie hätte trinken können, stand unerreichbar weier hinten. Aber die gleichen Hände, die ihr vor einiger Zeit das Seil überstreiften, brachten dann einen hölzernen Küel mit einem köstlichen weissen Nass. Als man ihr dann noch zwei Finger in den zahnlosen Mund streckte, spürte sie die warme und nahrhafte Witterung, folgte der Versuchung und ist herrlich satt geworden.
Links und rechts neben ihr vergnügten sich noch andere Kälber, teils grösser und später auch kleiner als sie. Und die ganze Schar wuchs und wuchs, die Flüssignahrung machte Kraftfutter, Heu und Gras Platz.
So rollten die Tage herauf und hinunter, und es kam die Zeit, als sie mit ihren Gespanen erstmals die Schwüle des Stalles verlassen durfte und auf die Kälberweide unweit des stattlichen Gehöfts geführt wurde.
Was gab es da nicht alles zu bestaunen! Der bellende Hofhund jagte ihr zwar zuerst einen gehörigen Schreck ein, und die zwei Katzen brachten die Kleine so richtig zum Glotzen. Ganz abgesehen vom ewig gackernden Federvieh, das sie vollends aus dem Häuschen brachte. Überhaupt passierte noch vieles um sie herum. Am meisten Freude bereiteten ihr die vielen buntfarbigen Schmetterlinge, die im lauen Aufwind über die Gräser gaukelten. Wenn diese sich mit ausgespannten Flügeln auf Wiesenblumen niedersetzten oder wie atmend sie auf und zu taten, konnte sie nicht aufhören zu staunen.
Vor lauter Aufregung kam es Mira, wie sie laut Zuchtbuch genannt wurde, gar nicht in den Sinn, am grossflächigen, satten Grün zu naschen. Erst später, als ihre Artgenossen schon fast genug hatten, guckte sie gelehrig zu und probierte ebenfalls, mit ruckartigen Bewegungen einige Halme in den nun bereits bezahnten Mund zu kriegen. Als ihr das dann immer besser gelang, vergass sie alles um sich herum, und sogar die lästigen Fliegen konnten sie nicht mehr stören.
So ging dieser Freudentag bei einbrechender Dämmerung zu Ende, und bevor es ganz dunkel wurde, fand sie die ganze Schar im Stall wieder. Zerst machte sie das ganz traurig, und nur der Trost beruhigte sie in der berechtigten Hoffnung, es würden noch viele solche Tage folgen.
So war es dann auch, und die Jahreszeiten folgten eine der anderen.
Es kam dann der Tag, wo Mira erstmals auf die Alp auffahren durfte. Sie war inzwischen zu einem stattlichen Rind von anderhalb Jahren herangewachsen, und war ganz aufgeregt von den neuen Eindrücken hoch oben im Napfgebiet, auf der Lushütten-Alp.
Gut gepflegt vom Alphirten Hans Häusler und seiner Frau nahm sie mit vielen andern Quartier im hinteren des zweiteiligen Stalles knapp unter der Alpwirtschaft "Obere Lushütte".
Nun folgten die herrlichsten Tage ihres noch jungen Lebens. Zwar war die ganze Herde hauptsächlich mit der Nahrungsaufnahme beschäftigt, dafür war man ja schliesslich auch da. Die schmackhaften Alpenkräuter dufteten zudem auch gar verlockend. Nur der drängede Muni ärgerte sie manchmal. Der wollte nicht verstehen, dass auch ausgewachsene Rinder nicht alle Tage stierig sein konnten.
Der Prachtssommer 1983 zeigte eigentlich nur im sonst wärmsten Monat August ein eher trübes Gesicht. Schwere Nebelschwaden umwogten seit Tagen das hügelige Gelände, und ein recht kühler Nieselregen drang durch Haut und Knochen. Die ganze Kuh- und Rinderherde war deshalb manchmal froh, wenn der allgegenwärtige Hans sie ab und zu in den trockenen Stall lockte.
Der Tag zum Dreissigsten des erwähnten Monats war nicht anders, ja eher noch trüber in den ersten Morgenstunden. Der Nebel schien undurchdringlich auch bei Tagesanbruch. Alles war nass, selbst wenn kein eingentlicher Regen fiel.
Mira war zu dieser Zeit ganz oben auf dem Aussichtshügel, nicht weit von der Alpwirtschaft, da wo für aussichtshungrige Ausflügler ein Ruhebänklein hingezimmert wurde. Auf der gleichen Höhe wird das Alpgelände durch einen hölzernen Weidhag abgegrenzt, weil kurz dahinter ein so steiler Wald sich den Hang hinabtastet, dass männiglich nicht weiss, wie sich die trutzigen Tannen überhaupt halten können. Unmittelbar hinter dem Hag gibt es Stellen, wo es haushoch senkrecht abfällt.
Das sollte Mira noch bald einmal erfahren.
Warum an diesem Tag die Abschrankung an der höchsten Stelle, gerade neben dem Bänklein, etwa auf zwei Meter zusammengedrückt war, konnte eigentlich nie ganz geklärt werden. Fachkenner munkelten, der an allem schuld sein sollende Stier habe daneben Rinder oder Kühe beschlagen und im daraus entstandenen Gedränge die Beschädigung verursacht. Sei dem wie es wolle, auf alle Fälle war die Lücke da, und ein drohendes Unheil eigentlich nur noch eine Frage der Zeit.
Mira hatte unterdessen genau diese Stelle erreicht und merkte in der Milchsuppe gar nicht, dass sie sich auf Abwege begab und plötzlioch hinter der Ruhebank stand. Obwohl es dort eher Tannennadeln denn Gras gab, schnupperte sie sich unbefangen vorwärts und wurde erst etwas stutzig, als der Boden so komisch unter ihrem Gewicht nachgab. Zuerst nur ganz unmerklich, aber dann immer stärker kam die Gute in Standschwierigkeiten.
Instinktiv fühlte das Rind nun eine unmittelbare Gefahr und machte dabei einen nicht wieder gutzumachenden Fehler. Sie war schliesslich keine berggewohnte Geiss, der solche Klippen nichts zu schaffen machen. In ihrer Panik drehte sie sich brüsk nach rechts, was ihren ausschwenkenden Hinterteil nun endgültig dem Abgrund entgegen brachte. Die beiden Hinterhaxen sackten ab, und es nützte ihr auch nichts mehr, vorne verzweifelt so zu sperzen, dass die "Mutten" nur so flogen.
Dann kam, was kommen musse. Der schwere Körper sauste gute sechs Meter frei durch die Luft in die Tiefe und schlug dermassen hart auf, dass der Schellenriemen riss und das Geläut weit fortgeschleudert wurde. Aber Glück im Unglück. Die Aufprallstelle war so steil, dass Mira fast ungebremst durch das Unterholz abwärts sauste, sich dabei mehrmals überschlagend.
Schäg unten erschreckte der dumpfe Knall und das nachfolgende Schleifgeräusch einen Rehbock dermassen, dass dieser mit allen vieren in die Luft juckte und dann überhastet in langen Gängen dem Tal zusauste. Auch die drei Eichelhäher auf den nahen Tannenspitzen vergassen ob dem Schreck ganz ihr Geschrei, halsten dann aber um so lauter los, als ob sie selber dran glauben müssten. Erst als sie sich einigermassen erholt hatten, strichen sie ab in den Wald, um das Gesehene der ganzen Fauna zu verkünden.
Das geschundene Rind war inzwischen an zwei Baumstrunken zum Stillstand gekommen, nachdem es vorgängig durch einige Haselsträuche in seiner Schussfahrt gebremst worden war. Benommen lag es nun da, wusste nicht, was ihm geschehen war, und fühlte in seinem Schock nicht einmal die Schmerzen, die ihm einige Prellungen und Schürfungen verursachten.
Ihr Hirn war noch leer und konnte keine Eindrücke aufnehmen. Die Augenlider wurden schwer und schwerer, deckten vollends die Augen zu. So lag Mira wie schlafend für einige Minuten da, und nur gelegentliche nervöse Hautzuckungen verrieten, dass sie nicht das Zeitliche gesegnet hatte. Aber dann, langsam zwar, erwachten ihre Lebensgeister, und sie hob erstmals wieder ihr brummendes Haupt.
Es verstrich weitere Zeit, bis der Erhaltungstrieb sie ermutigte, zwei, drei Aufstehversuche zu wagen. Und siehe da, es gelang. Umständlich zwar noch, aber dann immer sicherer werdend, hatte sie bald wieder ihre Standfähigkeit erreicht. Dabei musste sie höllisch aufpassen, nicht wieder in diesem verfluchten Gelände abzurutschen.
Nach dem Prinzip, dass es abwärts immer müheloser geht als den Gipfeln zu, tastete sie sich vorsichtig voran, einen Halt um den andern suchend. Das ging langsam, verdammt langsam. Zudem tat ihr der hintere rechte Stotzen doch bei jedem Schritt recht weh, aber es ging.
So verstrich die Zeit, und die geplagte Mira kam dem Talgraben immer näher. Zusätzlich angelockt von fernem Herdengeläut, das vom gegenüberliegenden Hang zu ihren Lauschern drang, hoffte sie bald einmal ihresgleichen zu finden. Sie konnte ja nicht wissen, dass es sich beim Gehörten um anderweitiges Alpvieh handelte, das sie wegen des dichten Tanns gar nicht ausmachen konnte.
Der Nebel war inzwischen auch verschwunden, und einige Sonnenstrahlen drangen verschmitzt durch die Astlücken, als ob sie das einsame Geschöpf aufrichten und feiern möchten. Auch die zahlreichen Tannenmeisen fühlte sich durch die angenehme Wärme wohlig angeregt und ihr vielfältiges Zirpen drang aufmunternd durch die feuchtschwangere Luft in diesen verlassenen Berghain.
Aber war da nicht urplötzlich noch etwas anderes zu hören? Die Lebensgeister im Rind waren nun doch wieder dermassen erwacht, dass sie jegliche Regungen wahrnahm. Ihre Ohren fingen an zu spielen, und sie richtete ihren Kopf nach oben, wo sie ganz deutlich eine menschliche Stimme zu vernehmen glaubte.
"Chumm, sä, sä, sä, chumm, sä, sä, sä!"
Wahrhaftig, sie hatte sich nicht getäuscht. Dort oben stand er, ihr Hirt.
Hans Häusler, der rüstige Senn auf der Lushütten-Alp, hatte Stunden zuvor beim Eintreiben das Fehlen des Rindes gemerkt. Von Sorge gezeichnet, hatt er seine Feststellung vor der Alpwirtschaft kund getan, wo ich mich aufhielt und bald einmal seine Soirgen teilte. Eine sofortige Nachsuche drängte sich auf, weil an ein selbständiges Auftauchen der Vermissten nicht geglaubt werden konnte, denn weit und breit war kein Nächzügler auszumachen.
Auf den gebrochenen Zaun oben beim Bänklein, den ich vorgängig entdeckt hatte, aufmerksam machend, begab sich Hans dorthin. Obwohl es fast unwahrscheinlcih schien, das Tier habe sich an dieser Stelle davongemacht, folgte der Hirt einer inneren Ahnung und stieg runter gegen das Riedbad.
Nun, das Geschehene weiss der Leser inzwischen. Den Riesenstein, um nicht zu sagen Felsbrocken, der dem Senn vom Herzen fiel, konnte man fast aufschlagen hören. Liebevoll hat er das wiedergefundene Rind gestreichelt, ihm ermutigend zugesprochen und gleichzeitig seine Flanken nach Verletzungen abgesucht. Da sich diese aber im Rahmen hielten, musste nun an das Wie und Wo gedacht werden.
In berggewohnter Manier machte sich der menschliche Fürsorger auf, um zwar die kürzere, aber auch anstrengendere Route zu wählen. Zickzack hinauf, wo man runtergekommen war.
Und siehe da: Mira folgte ihm auf Schritt und Tritt, ohne dass sie dazu ermuntert wurde oder er sie sogar vor sich hintreiben musste. Ein anstrengendes Unterfangen war das alleweil; aber die glückliche Erregung des Wiederfindens liessen die beiden erst gar nicht die Beschwerden erkennen.
Als das Ziel erreicht war, reihte sich unsere Mira im Stall ein, als ob nichts geschehen wäre. Schon am andern Tag hat sie sich wieder an den Alpenkräutern erfreut, und kein Mensch hätte auch nur geahnt, was die Niedliche hinter sich hatte.
Zufällig war ich bei meinen Wanderungen auch da und habe alles hautnah mitbekommen. Durch die gefundenen Spuren an der Absturzstelle war es möglich, die Geschichte so niederzuschreiben, wie sie vorliegt. Und über den Werdegang von Mira habe ich mich später beim Eigentümer in Häusernmoos selbst erkundigt, sie sogar besucht und im dortigen Stall getätschelt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen