Dienstag, 16. Dezember 2008

Aussteiger

Die Steinböcke von der "Chilchenflue"
Bild: Steingeiss von dort

Da gibt es doch wirklcih am Brienzersee eine winzig kleine Steinbockkolonie, die tiefere Gefilde aufgesucht hat. Und das schon seit Jahrzehnten. Einen knappen Büchsenschuss oberhalb des heimeligen Brienzerseedorfes Niederried, rund um die sogenannte "Chilchenflue", haben sich ein paar Hornträger heimisch gemacht. Wohlverstanden, die bleiben auch den Sommer über da und denken nicht im Traum daran, ihr Dasein bei ihren Artgenossen hoch oben in den ruppigen Augstmatthorn-Felsen zu fristen.

Gibt es etwas Naheliegenderes, als diesen Eigenbrötlern auch einige Zeit zu widmen?

Zu Studien- und Beobachtungszwecken habe ich ein paar Tage Ferien gemacht und in einer heimelgien Hütte im "Bärenloch" Quartier bezogen. Diese ist mir in verdankenswerter Weise von meinem Freund Paul Amacher zur Verfügung gestellt worden. Wohlbehütet, von Wald umgeben, liegt sie auf einer kleinen Alp oberhabl Ringgenberg. Offenbar haben heir zu Urzeiten Bären ghaust.

Es ist kurz nach Ostern. Wilde Schneestürme haben über die Festtage die ganze Brienzerseegegend in den tiefsten Winter zurückgeworfen. Lawinen sind niedergegangen und haben gar manchem eiligen Autofahrer wieder das Fürchten gelernt.

Einige frühlingshafte Tage und eine intensive Sonneneinstrahlung haben aber die weisse Grenze rasch wieder nach oben versetzt.

Auch schön ist es jetzt im "Bärenloch". Ein saftiges Grün sticht in die Augen und zieht eine Vielzahl von Gämsen an, denen es weiter oben noch nicht so recht behagt. Aufmerksam, immer wieder verhoffend, äsen sie gegen Abend und bis in die frühen Morgenstunden hinein rund um die Hütte. Welch ein Freude, von der verdunkelten Stube aus fast Auge um Auge mit diesem scheuen Alpenwild zu verweilen.

Und dann die bunt gemischte Vogelwelt. Einem Liebhaber dieser gefiederten Kreaturen würde hier oben das Herz im Leibe lachen. Während meinem Aufenthalt habe ich nicht weniger als folgende Arten ausgemacht: Mäusebussard, Habicht (fast ausgestorben), Sperber, Kolkrabe, Dohle, Elster, Eichelhäher, Tanenhäher, Amsel, Ringdrossel, Buntspecht, Schwarzspecht, Star, Buchfink, Tannenmeise, Kohlmeise, Bachstelze, Rotschwänzchen, Kleiber, Zaunkönig.

Aber nun zurück zu den Sonderlingen, denen dieses Kapitel gewidmet ist: den Steinböcken an der "Chilchenflue".

Ein steifer Wind hat über Nacht dichte Nebelschwaden den Berghang entlang getrieben und ein feiner Regen sang schon vor dem Morgengrauen sein eintöniges Lied auf das Hütendach. Sonst war die Nacht still, und lediglich zwei raufende Füchse haben gelegentlich die Ruhe mit ihrem aufreibenden Gekläff gestört.

Trotz dem unfreundlichen Wetter mache ich mich recht früh auf den Weg und ziehe leicht schräg hinunter in Richtung der genannten Fluh. Zwar nehmen mir das einige Gämsen übel und verdrücken sich in langen Gängen in den nahen, höher gelegenen Mischwald. Einem vorwitzigen Tannenhäher gefällt dieser Frühaufsteher auch nicht. Mit lautem Geschrei warnt er die umliegende Fauna vor einem herannahenden "Feind".

Nun, ich weiss, dass sich meine gehörnten Freunde da unten von dieser Warnung nicht stören lassen. Zutraulich und selbstsicher, wie das Steinwild nun einmal ist, werden sie höchstens für einen Moment den Kopf heben, die Ohren ein wenig spielen lassen und sofort wieder zur Tagesordnung übergehen. Was kümmert sie schon der Mensch! Diese Zweibeiner sehen sie fast täglich an ihrem Einstand vorübergehen, und sie wissen sehr wohl von deren Harmlosigkeit ihrer Rasse gegenüber.

Der Tag ist nun ganz heraufgezogen. Rieseln tut es immer noch, und es sieht auch nicht darnach aus, als würde es heute noch besser.

Dann erreiche ich den gelichteten Föhrenwald, der sich hart oberhalb der "Chilchenflue" den steilen Hang hinauftastet. Ich muss noch weiter hinunter, denn hier oben ist es wie in einer Kirche. Nichts rührt sich, nichts ist zu sehen. Mit Leichtigkeit führt mich der Gratweg zu den zerklüfteten Felsen.

Ich schaue nach links, ich schaue nach rechts. Immer noch Ebbe in meiem Gesichtsfeld. Aber ein Herumstreunen hat hier keinen Sinn, und so setze ich mich nach einigen Schritten auf eine kleine Erhöhung mit Steinen und winzigen Felsen. Ein Warten bei schönerer Witterung könnte ich mir zwar besser vorstellen, aber was tut man nicht seinem Hobby zuliebe.

So vergehen die Minuten. Aber halt, war da unten nicht eben ein Rascheln im dürren Laub zu hören? Ob es wohl nur eine scharrende Amsel ist?

Aber nein, jetzt sehe ich's. Ein Steinkitz, zwar schon fast ein Jährling, glotzt verständnislos in meine Richtung. Aha, mein Kleiner; wo du bist ist auch deine Mutter, und sicher noch weitere Artgenossen. Ich bin nun überzeugt, dass das Nasswerden nicht unnütz sein wird. Also warte ich weiter, und das gar nicht so lange.

Zuerst sehe ich nur den Kopf der alten Steingeiss. Aber im Handumdrehen steht sie neben ihrem Sprössling und gönnt mir ebenfalls einige Blicke. Keine Spur von Angst. Ja, ich bilde mir sogar ein, in ihren Augen würde sich eine gewisse Verachtung spiegeln. Stramm steht sie da, und ihr leicht gerundeter Bauch zeigt, dass sie schon wieder neues Leben in sich trägt.

Das Interesse an mir ist bald erloschen. Gelangweilt wenden sich die beiden ab und schenken ihre Blicke etwasem, das weiter unten liegt.

Unverhofft versetzt die Alte dem Kleinen einen sanften Hornstoss in den Hintern, was das Jungtier veranlasst, einige verdutzte Sprünge nach vorn zu machen. Das bedeutet ganz einfach Platz machen und weiter ziehen.

Der Grund ist alsbald ersichtlich. Von der Seite her drängen noch weitere Tier ins Blickfeld. Langsam und bedächtig ziehen Steingeissen mit Jährlingen, dazwischen auch mal ein zweijähriges Böcklein, einer Prozession gleich nach rechts und verlieren sich im Gewirr der steilen Gegend.

Wo wohl die älteren und alten Böcke sein werden? Dem Vernehmen nach muss es hier auch welche geben. Sogar ein ganz Mächtiger soll dabei sein.

Diese "Herren" sondern sich vom Frühling bis in den Spätherbst von den Geissen und dem Geraffel (Jungtiere) ab. Ich begebe mich also auf die Suche und taste mich vorsichtig am oberen Rand der "Chilchenflue" entlang. Ein an und für sich ungefährliches Unterfangen, muss man doch bloss manchmal eine kleinere Lücke überspringen.

Es mag wohl eine weitere halbe Stunde vergangen sein, da sehe ich in etwa dreissig Meter Entfernung durch den lichten Nebel einen Bock stehen, der ganz ordentlich aufgesetzt (grosse Hörner) hat. Sein Alter schätze ich auf acht bis zehn Jahre. Ganz genau kann man das auf diese Distanz nicht sagen, ist doch die Anzahl der sich am oberen Rand der Hörner befindlichen Knöpfe nicht mit den Lebensjahren identisch. Die genaue Alterbestimmung stellt man an der Innenseite an den Jahrringen fest, genau wie bei Bäumen.

Majestätisch bockt der Bursche auf einem kleinen Felsvorsprung auf. Unbeweglich und urwüchsig formt er ein Bild wie aus Stein gehauen. Obschon ich sicher bin, dass er mich vorgängig sowohl gehört wie gesehen hat, würdigt er mich nun keines Blickes mehr. Man könnte wirklich meinen, er sei ausgestopft, würde nicht gelegentlich ein reflexartiges Zucken über seine dicht behaarte Decke gehen. Immer dann, wenn ein grosser Tropfen vom darüberstehenden Baum darauf fällt.

Systematisch suche ich nun mit dem Feldstecher mein von Bäumen gestörtes Blickfeld ab. Dabei übersehe ich fast, dass neben dem Erstgesehenen auf einem schmalen Grasband drei weitere Steinböcke liegen. Einen davon möchte ich schon als kapital ansprechen. Er trägt auch den grössten Hornschmuck, den er charakteristisch mit Kopfbeugen nach vorn auf einem Stein abstützt.

Der vorderste nimmt sich nun doch die Mühe, mich näher zu beaugapfeln und den Wind prüfend durch den Riecher zu ziehen. Ganz gut gefallen tu ich ihm wohl nicht, denn er gibt plötzlich ein gut hörbares Schnaufen von sich, das wohl einen Warnpfiff andeuten sollte. Keine Spur von Erregung ist ihm aber anzusehen. Zwar bemüht sich der Stehende auch, an mich doch einige Aufmerksamkeiten zu verschwenden. Mit einem langsamen, gleichmässigen Herumschwenken des Kopfes in meine Richtung gibt er mir zu verstehen, er wisse genau, wo ich sitze.

Das unfreundliche Wetter nervt mich zusehends, und so ziehe ich mich langsam zurück. Zudem will ich das Vormittagsschläfchen meiner vierbeinigen Freunde nicht weiter stören.

Seelisch befreit und erfreut über die kurze Begegnung mit dem Steinwild an der "Chilchenflue", gehe ich wieder zurück in die Bärenloch-Hüte, von wo aus sich bald einmal der Geruch frischen Kaffees verbreitet.


























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