Während einiger Zeit ergab es sich oft, dass ich die Stockmädli-Hütte unterhalb des Augstmatthorn am Brienzergrat allein aufsuchte, im Jahr bis zu fünf Mal. So war es auch an diesem schönen Maientag. Die Schneegrenze hatte sich längst zum Grat hinauf getastet, wo nur noch einige Wächten dem längst vergangenen Winter nachtrauerten. Die ersten Alpenblumen verschönerten bereits die Gegend mit ihrer Farbenpracht, umsummt von emsig Nektar suchenden Insekten.
Obschon ich den vorangegangenen schönen Abend genossen habe, vermisste ich doch die Gesellschaft vorallem meiner Kollegen aus dem Steinbockklub Bern. Lange lauschte ich auf dem Hüttenbänklein in die Nacht hinaus und versuchte die einzelnen Laute zu analisieren. Beim Waldkauz war es noch einfach, aber das mannigfaltige Zirpen gab doch Rätsel auf. Das heisere Bellen eines Fuchses, zwar weitab, aber gut hörbar, konnte ich auch katalogisieren. Und was in der Gegend Altenwald wie zusammenschlagende Bretter erschallte, waren zwei starke Hornpaare, die spielend kämpfende Steinböcke aneinander prallen liessen.
Drinnen im Matratzenlager fand ich lange keinen Schlaf, döste vielmehr gelangweilt vor mich hin. Zudem störten mich die ewig trippelnden Mäuschen, die wieder einmal die Nacht zum Tag machten und stets hungrig nach meinen Speiseresten suchten.
Es war noch lange finster, als ich mich, unausgeschlafen wie ich war, in die Bergmontur stürzte und anschickte, langsam bis Chrummenkännel hinauf zu pilgern. Nur mit etwas kaltem Tee vom Vortag im Bauch. Hie und da hörte ich links oder rechts vom Pfad etwas hastig weghuschen, konnte aber wegen der Dunkelheit nicht erkennen, ob es Gämse, Steinwild, Fuchs oder Dachs war.
Dann tauchten schemenhaft die Umrisse der Chrummenkännel-Hütte auf, während sich über dem Sustengebiet die ersten hellen Streifen am Himmel bildeten. Auch in dieser Hütte war niemand, der mir einen Kaffee gebraut hätte.
So setzte ich mich, schon etwas müde, ins taufrische Gras und spürte alsbald die kalte Nässe durch den Hosenboden dringen. Aber was soll's! In kurzer Zeit würde ich einen Sonnenaufgang erleben, wie er hier oben so schaurig schön ist. Dann würde ich auch die ersten Tiere ausmachen können. Eher in der Nähe die leichtfüssigen Gämsen, etwas weiter oben die Steinböcke und sicher wie jeden Tag die Adler vom "Schneebergli".
Ich verzichte heute darauf, von dem was ich dann wirklich alles gesehen habe, zu erzählen. Vielmehr will ich von einer Begebenheit berichten, an die ich sicher bis an mein Lebensende denken werde.
Die Sonne stand schon schräg am Himmel, als ich mich aufmachte und gemächlich in Richtung der Lawinenverbauungen stampfte. Es wurde schon lngsam warm und ich war froh, als ich endlich oben war. Verschwitzt setzte ich mich auf eine Mauer aus Steinen, die im Winter das Abrutschen von Lawinen verhindern sollte.
Mein Blick blieb unverhofft an einem kleinen Mauerloch haften, wo ich ein Gelege von fünf Vogeleiern entdeckte. Höflich, wie ich nun einmal gegenüber Tieren bin, begab ich mich etwa für zehn Meter vom besagten Nest weg. Der Altvogel würde sonst seine Behausung aus Angst vor der fremden Gestalt nicht mehr aufsuchen, um seine Brut zu wärmen.
Ringsum tat sich so viel, dass ich das Mauerloch wieder vergass. So etwa nach einer halben Stunde schaute ich dann doch wieder hin und musste erstaunt feststellen, dass das Gelege immer noch nicht bebrütet wurde.
Da kann doch etwas nicht stimmen, mutmasste ich, und so schlenderte ich wieder zurück, um mir die Sache aus der Nähe zu betrachten. Ringdrossel, argumentierte ich und wollte, um sicherzugehen, ein Ei herausnehmen. Dazu musste ich natürlich in die Höhle greifen.
Viel rascher als hinein, riss ich meine Hand wieder heraus. Irgend etwas hatte mich gestochen oder gebissen. Als dann zu gleicher Zeit noch eine Hummel aus dem Loch flog, glaubte ich die Urheberin zu kennen. Aber das konnte auch wieder nicht sein, denn am rechten Zeigfinger bildeten sich zwei Blutstropfen. Halb änstlich, aber doch interessiert, näherte sich mein Gesicht dem geheimnisvollen Loch. Und dann sah ich sie, und wurde dabei sicher etwas bleich. Zusammengeringelt lag sie da, mit ihrem schwarzen Zickzackmuster, nervös züngelnd. Unzweifelhaft KREUZOTTER!
Himmeldonnerwetter, das hat mir jetzt gerade noch gefehlt! Mutterseelenallein und weitab von jedem Doktor. Kräftig saugte ich am Finger herum was das Zeug hielt. Unten in der Chrummenkännel-Hütte fand ich sogar ein Messer - meines hatte ich in der anderen Hütte vergessen - um noch etwas Blut herauslaufen zu lassen, und eine Schnur zum Abbinden.
Dann ging ich langsam bergab, zuerst ins Stockmädli, wo ich eilends meine Habseligkeiten zusammenraffte und anschliessend mit dem Abstieg begann. Nicht allzu schnell, um die Herzschläge nicht unnötig zu beschleunigen. Das Gift in meinem Körper hätte sich so rascher verbreitet.
Ich wusste zwar, dass der Biss einer Kreuzotter nicht unbedingt lebensgefährlich ist, aber sicher ist sicher. Auf jeden Fall wurde es mir unterwegs oft schwindlig. Eine beklemmende Angst schnürte meine Brust zusammen und ich hoffte, nicht ohnmächtig zu werden.
Der erste Bewohner, den ich unten im Dorf Niederried am Brienzersee traf, erzählte mir noch lange, wie ich grosse Schweisstropfen auf der Stirne gehabt hätte und immer wieder stammelte: "Schlange, Schlange"!
Obschon ich mich nicht unbedingt in Lebensgefahr wähnte, verfrachtete mich aber doch ein Bekannter in sein Auto und fuhr mit mir ins Bezirksspitel Interlaken. Sicherheitshalber, wie er meinte.
Dort bin ich von einer jungen, nervösen Assistenzärztin empfangen worden, die vor Aufregung wohl belämmerter aussah als ich selber. Offenbar war ich für sie der erste solche Fall. "Viper oder Kreuzotter", wollte sie wissen. "Kreuzotter", antwortete ich bestimmt und gab auch an wo. Wieso ich das wisse. Halt eben.
Das richtige Serum wude dann in die Blutbahn gespritzt, und nach einer Stunde Hinlegen konnte ich die Klinik mit einer Armschlinge verlassen.
Die rechte Hand tat mir in der Folge noch lange recht weh. Der dazugehörende Zeigfinger war knütschblau geworden. Ein sicheres Zeichen, dass ich doch etwelches vom Ötterchen abbekommen hatte.
Erst nachher kam mir in den Sinn, dass eigentlich die Ringdrossel, so es wirklich eine solche war, ganz recht gehabt hatte, nich in ihr Netz zurückzukehren.
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